Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Descosse
Vom Netzwerk:
Ein über Generationen aufgehäufter, dezenter Reichtum, der wie ein unrechtmäßig erworbener Schatz gehütet wurde.
    Ein kurzer Blick auf das Navi. Reststrecke: achthundert Meter. Geschätzte Zeit: drei Minuten. Doch in dem Tempo dürften sie eher mit einer Stunde rechnen.
    Als François die Fabrik verließ, hatte er beschlossen, die Eltern des Gymnasiasten zu befragen. Ein Mord war wie ein Labyrinth und hatte in der Regel nicht allzu viele Eingangstore. Das Umfeld des Opfers war eines dieser Tore, desgleichen die Autopsie, der Tatverlauf oder die Tatortanalyse. Diese klar voneinander getrennten Achsen trafen sich allmählich und ergaben ein Ganzes, ein System, in dessen innerstem Kern gegebenenfalls der Schuldige saß.
    »Setzen Sie eigentlich nie Ihr Martinshorn ein?«, fragte Julia unvermittelt.
    »Selten.«
    »Widerspricht das Ihren Überzeugungen?«
    »Ich mache nicht gern auf mich aufmerksam.«
    Sie seufzte.
    »Kann ich das Radio anmachen?«
    Sie wartete seine Zustimmung gar nicht erst ab und schaltete den Apparat ein. Der war auf France Musique eingestellt. Aus den Lautsprechern kamen die schmerzvollen Töne einer Mahler-Symphonie.
    Sie verzog das Gesicht.
    »So ein Zeug hören Sie sich an?«
    »Mögen Sie das nicht?«
    »Das ist voll daneben.«
    Über Geschmack und Farben ließ sich schwer streiten. Klassik entspannte den Kommissar nun einmal, bei dieser Musik konnte er zu sich finden. Er hatte sie während seiner Zeit als Arzt im Praktikum entdeckt, im Sainte-Anne. Dort wurde klassische Musik als therapeutisches Mittel eingesetzt, um Angstattacken bei psychotischen Patienten zu bekämpfen. Bei ihm funktionierte das auch.
    »Suchen Sie sich einen anderen Sender, wenn Sie möchten.«
    Nach ein paar fruchtlosen Versuchen fand sie Shyrock. Ein ohrenbetäubender Lärm ertönte im Wagen.
    François versuchte, ihm zu entfliehen, indem er aus seinen bisherigen Ermittlungen Bilanz zog. Zwei Verbrechen innerhalb von weniger als vierundzwanzig Stunden. Metzeleien, um genauer zu sein, verübt an Jugendlichen, immer erst nach Einbruch der Dunkelheit. Keine oder nur wenige Spuren. Außer vielleicht einer undeutlichen Fußspur.
    Bei so wenigen Anhaltspunkten musste das Porträt des Mörders notgedrungen ungenau bleiben. Der Profiler stellte sich einen kräftigen Mann vor, der stark genug war, mit einem beträchtlichen Gewicht auf den Schultern über einen Zaun und in eine Grube hinunterzuklettern. Wahrscheinlich war er von weißer Hautfarbe – Raubtiere jagten bevorzugt in ihrer eigenen ethnischen Gruppe – und zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig Jahre alt. Ab diesem Alter wurden perverse Triebe dieser Art schnell schwächer, und ebenso schwand die Wahrscheinlichkeit, dass der potenzielle Täter auch wirklich aktiv wurde.
    Die kurze Zeitspanne zwischen den beiden Morden, die Besonderheit der Tatorte und ihre Entfernung voneinander machten deutlich, dass der Täter alles minutiös vorbereitet haben musste und einen klaren Plan gehabt hatte. Diese Umstände deuteten darauf hin, dass es sich bei dem Täter um einen gut organisierten Menschen handelte, der einen im Voraus gefassten Plan ausführen und einen anderen Menschen kaltblütig töten konnte.
    In der Vorstellung des Polizisten diente dieser Plan dem Täter lediglich dazu, ein Ritual auszuführen, und war eine Interpretation seiner kleinen persönlichen Musik. Jener Musik, die ihm, zumindest im Geiste, eine ungeheure Angst einjagte.
    Die Kettensäge, das Feuer, die Heugabel. Das waren alles zunächst einmal Werkzeuge und dann aber auch Waffen. Das Arsenal des perfekten kleinen Landwirts, der sich um seine Erde kümmert und die Kreisläufe der Natur beachtet. Erst hatte er das Feld gerodet, dann in Brand gesetzt und dann beackert. Was für ihn bedeutete, als er selbst wiedergeboren zu werden.
    Lucie lieferte ihm das Gesicht dazu.
    Den Beweis für seine neue Identität …
    Die synthetische Stimme seines Navi riss Marchand aus seinen Gedanken: »In zweihundert Metern nach links abbiegen.«
    Der Verkehr lief jetzt flüssiger. In weniger als fünfzehn Sekunden hatten sie die Strecke zurückgelegt und bogen in die Rue de Turenne ein. Familie Jacquet wohnte in Haus Nummer 3.
    Und sie waren zu Hause.
    21
    Das Mietshaus hatte Klasse.
    Ein schönes Gebäude aus behauenem Stein, auf dem zwei Paar dorische Säulen prangten. Ein Detail, das, zusammen mit der etwas wuchtigen Dekoration, typisch für die Dreißigerjahre war.
    François drückte den Türöffner. Eine

Weitere Kostenlose Bücher