Wer Boeses saet
Zimmer. Es geht ihr nicht sehr gut.«
Wieder eine Zäsur. Gegen Ende war ihm die Stimme ein wenig entglitten.
»Sicher.«
»Soll ich Sie holen?«
Er klang ein wenig besorgt. François antwortete ohne Umschweife:
»Ihre Aussage wird uns genügen.«
Jacquet schien beruhigt. Zwei, drei Sekunden verstrichen, in denen er sich ein Glas einschenkte. Er nahm einen kleinen Schluck und sagte dann mit tonloser Stimme:
»Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. So ist sein Wille.«
Er versteckte sich hinter dieser abgedroschenen Floskel. Sie war ein Schutzschild gegen das Unannehmbare. François griff das Thema Religion auf, um mit ihm ins Gespräch zu kommen.
»Sie sind gläubig, nicht wahr?«
»Wir sind Katholiken, praktizierende Katholiken.«
»Teilte Pierre Ihren Glauben?«
»Er lebte in der Liebe des Herrn. Gott hat ihn zu seiner Rechten empfangen. Das ist unser einziger Trost.«
»Da bin ich mir sicher …«
François ließ ein paar Sekunden verstreichen, eine Pause, die es Jacquet gestattete, sich noch ein wenig mehr Alkohol einzuverleiben. Dann sprach er weiter und kam diesmal gleich zur Sache.
»Könnten Sie uns ein bisschen was über seine Gewohnheiten erzählen?«
»Seine Gewohnheiten?«
»Die Schule, seine Hobbys, seine Freunde …«
»Pierre ist ein sehr guter Schüler. Wir haben ihn aufs Saint-Joseph geschickt, ein Privatgymnasium, das von Jesuitenpatres geleitet wird.«
Jacquet sprach von seinem Sohn in der Gegenwart. Es gelang ihm nicht, den symbolischen Schritt zu tun und von ihm in der Vergangenheit zu reden.
»Ich hätte mir sehr gewünscht, dass er mein Unternehmen übernimmt. Ich bin im Haushaltswarenhandel tätig. Aber er wird Arzt werden. Sich im humanitären Bereich engagieren. Das ist auch gut, nicht wahr?«
Der Kommissar nickte kurz. Die Verzweiflung dieses Vaters war so groß, dass seine eigenen Überzeugungen ins Wanken geraten waren.
»Wo befindet sich dieses Gymnasium?«
»Nicht weit von hier. Boulevard Gambetta.«
»Wie kam er dorthin?«
»Zu Fuß.«
»Um wie viel Uhr war die Schule am Montag aus?«
Ein müder Blick.
»Diese Fragen hat man mir schon gestellt, Monsieur.«
»Ich weiß. Aber ich hatte noch keine Zeit, Ihre Aussage zu lesen.«
»Die Schule endete um fünf Uhr nachmittags. Dann hatte er ein Treffen bei der MJC , und danach hätte er nach Hause kommen sollen.«
»Die MJC . Sie meinen die Katholische Jugend?«
»Ja. Pierre ist dort sehr engagiert. Er leitet eine Gebetsgruppe, kümmert sich um Senioren und verbringt seine Ferien in Lourdes. Seine ganze Freizeit bringt er damit zu, dem Worte Christi zu dienen.«
Ein vorbildlicher Sohn. Zumindest nach den Kriterien, die in dieser katholischen Familie Gültigkeit hatten. Marchand wartete, bis Jacquet sein Glas geleert hatte, dann bohrte er weiter.
»Wo befindet sich diese Vereinigung?«
»In der Pfarrgemeinde Jean- XXIII , Rue Charles-Lory. Die Kirche stellt ihnen einen Raum im Pfarrhaus zur Verfügung.«
»Ist das hier im Viertel?«
»Auf der anderen Seite des Cours Jean-Jaurès.«
Die Schule, die außerschulischen Aktivitäten, das Zuhause. Alles lag direkt im unmittelbaren Umkreis. Bei dem engen Korsett hatte der Mörder keinen großen Spielraum gehabt.
»Sind Sie sicher, dass er zu dieser Versammlung gegangen ist?«
»Ganz sicher. Pater Jean-Luc hat es uns bestätigt.«
»Um wie viel Uhr ging das zu Ende?«
»So gegen neunzehn Uhr dreißig. Wenn man überlegt, wie nah das ist, dann hätte er zehn Minuten später zu Hause sein müssen.«
Kurz. Sehr kurz. Wie hatte der Mörder das angestellt? Das Nest der Familie war viel zu nah. Und wenn es noch so kalt und noch so dunkel war, es gab keinen Grund, warum der Jugendliche in ein ihm unbekanntes Auto einsteigen sollte.
Es sei denn …
Die Idee war ihm gerade erst gekommen. Es war, als würde es ihm wie Schuppen von den Augen fallen.
Pierre kannte den Schlächter.
Er hatte auf ihn gewartet, sich an einer Straßenecke auf die Lauer gelegt. Dann war er im rechten Moment plötzlich aufgetaucht, hatte ganz überrascht getan und ihm vorgeschlagen, ihn nach Hause zu fahren. Der Junge war nicht misstrauisch gewesen …
Der Profiler spann den Gedanken weiter. Hatte man Lucie auf dieselbe Art aufgelauert? Weil sie sich auch in Sicherheit wiegte? Nach den erotischen Turnübungen mit Galthier war sie wahrscheinlich wieder in ihre Wohnung gegangen. Bestimmt war sie ziemlich fertig gewesen. François hatte bislang keinen triftigen Grund gefunden,
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