Wer Boeses saet
warum sie mitten in der Nacht nach draußen gegangen sein sollte, schon gar nicht an einem Sonntag.
Jetzt sah er einen. Jemand hatte sie angerufen. Hatte sie sehen wollen. Und zwar sofort. Eine Person, die ihr vertraut genug war, dass sie das Angebot nicht hatte ausschlagen können. Wenn man dieser Logik folgte, konnte das sehr wohl der Mann sein, den sie suchten.
»Haben Sie noch Fragen?«
»Wie bitte?«
Marchand war so in seine Gedanken versunken gewesen, dass er vergessen hatte, wo er sich befand. Pierres Vater hatte sich noch ein Glas eingeschenkt und starrte nun mit der Miene eines verletzten Tieres darauf. Julia saß mit steifem Rücken und verschränkten Armen wartend da und fühlte sich zu unwohl, um einzugreifen.
»Ich muss mich um meine Frau kümmern«, rechtfertigte sich Jacquet. »Das alles ist so …«
»Natürlich«, antwortete der Profiler.
Beim Aufstehen sagte er:
»Eine letzte Frage noch …«
»Ja?«
»Hatte Pierre ein Handy?«
»Nein. Wir hielten das nicht für sinnvoll.«
François nickte.
»Entschuldigen Sie nochmals.«
Er wollte eigentlich etwas anderes sagen. Aber ihm fiel nichts ein. Welche Worte waren schon sinnvoll im Angesicht dieses unbegreiflichen Schicksals?
Bevor sie gingen, bekam er noch ein Foto des Opfers zugesteckt. Ein Porträt, das man in der Schule gemacht hatte, für alle Fälle. Er schob es schnell in die Tasche, außerstande, sich das in die Kamera lächelnde Gesicht anzusehen.
Julia betrat als Erste den Fahrstuhl. Während der gesamten Fahrt nach unten sprach sie kein Wort. Diesmal ging es nicht um sie beide. Sie hatte gerade das Grauen erlebt, Machtlosigkeit, ein Leid, dessen Ausmaß sie bislang nicht hatte ermessen können.
Eine Flamme war erloschen.
Eine ganze Familie vernichtet.
Wie auch immer es weitergehen würde, dieses Drama würde unauslöschlich bleiben.
22
»Der Herr sei mit dir.«
» UND MIT DEINEM GEISTE .«
»Es segne dich der allmächtige Gott. Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.«
» AMEN .«
»Gehet hin in Frieden.«
» DANK SEI GOTT DEM HERRN .«
Dann erfüllten die Klänge des Stabat Mater die Kirche. Eine grandiose, heilige Musik. Die Musik Gottes. Sie kam von einer gigantischen Orgel.
François wartete. Pater Jean-Luc kniete vor dem Altar und hielt Zwiesprache mit den Engeln. Er musste einen engen Kontakt zu Pierre gehabt haben. Er würde ihnen besser als jeder andere Auskunft geben können.
Nachdem sie das Haus des Opfers verlassen hatten, erläuterte der Kommissar Julia seine Hypothese. Am Tag des Verbrechens war der Jugendliche in die Kirche gegangen. Der Mörder hatte davon gewusst, denn er hatte ihn gleich nach der Versammlung abgepasst. Da Pierre ausschließlich religiösen Aktivitäten nachging, musste man damit rechnen, dass der Mörder diesem Kreis angehörte.
François beobachtete die junge Frau. Sie hatte den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen, und schien zu beten. Er wusste nicht, wen sie da anrief, aber ihr Anblick rührte ihn. Man konnte ihr ansehen, dass sie aufrichtig bewegt war. Es war, als wohne ein göttliches Licht in ihr. Sie erinnerte ihn an die Jungfrau von Orléans. Oder genauer gesagt an Milla Jovovich, die Schauspielerin aus Luc Bessons Film. In diesem Augenblick besaß Julia dieselbe Schönheit, dieselbe Kraft, dieselbe Reinheit.
Der Polizist ließ seinen Blick über die wenigen Menschen schweifen, die dort knieten. Es waren vorwiegend alte Leute, wahrscheinlich gingen sie täglich in die Messe. Sie hatten sich zu der Kommunion versammelt, mit der die Eucharistie-Feier schloss, und lauschten inbrünstig den himmlischen Stimmen.
François war zwar getauft, aber dieser religiöse Kitsch ließ ihn völlig kalt. Er glaubte an den Menschen, an seine Fähigkeit, durch harte Arbeit an seiner Psyche freier zu werden. Seit seinen ersten Analysesitzungen war das »Erkenne dich selbst« des Sokrates zum roten Faden in seinem Leben geworden. Niemand würde an seiner Stelle die Arbeit tun. Weder Gott noch der Teufel. Es war sinnlos, sein Leben in die Hand einer übernatürlichen Einheit zu legen, in dem Versuch, über seine Lebensumstände hinauszuwachsen. Nur die Weisheit, die Selbstakzeptanz und eine bestimmte Art von Ehrlichkeit konnten den Menschen vor sich selbst erretten, ihn voranbringen. Das wusste François nur zu gut …
Er war zur Polizei gegangen, um sich von einem Schuldgefühl zu befreien. Um seinen Fehler auszumerzen. Zumindest den, den er begangen zu haben glaubte. Er fühlte sich für
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