Wer Boeses saet
weite Halle, blitzblank geputzte Fliesen, ein Kronleuchter aus damaliger Zeit. Kupferschilder wiesen darauf hin, dass es im zweiten Stock eine Anwaltskanzlei und im dritten eine kardiologische Praxis gab. Das Opfer stammte aus einem wohlhabenden Milieu. Es war nicht gerade derselbe Typ wie Lucie, aber der Profiler erkannte darin trotzdem eine Gemeinsamkeit. Auch die Eltern der kleinen Friseuse, die als Großhändler tätig waren, lebten nicht gerade in Armut.
Der Aufzug war winzig. Hier mussten sie notgedrungen ein wenig zusammenrücken. Zum ersten Mal war Julia nur ein paar Zentimeter von François entfernt. Er konnte sie riechen – sie duftete nach einer zugleich frischen und süßlichen Feuchtigkeitscreme –, konnte ganz genau die Struktur ihrer Haut erkennen, die glatt war, seidenweich, und honigfarben schimmerte. Ihm fiel auf, wie klein ihre perfekt geformten Ohren waren, zwei perlmuttfarbenen Muscheln gleich.
Sie spürte, dass ihr Kollege sie musterte, und straffte sich ein wenig. Ihre Blicke begegneten sich. Es war ihnen peinlich. François löste das Problem mit einem Lächeln, bei dem er sich Mühe gab, so neutral wie möglich zu wirken. Sie tat es ihm gleich, was die Situation eher verschlimmerte.
Nach einer nicht enden wollenden Fahrt nach oben blieb der Aufzugskäfig im fünften Stock abrupt stehen. Die Sicherheitstüren falteten sich auf und machten diesem stummen Zwiegespräch ein Ende. Marchand ließ Julia den Vortritt. Sie ging auf eine schöne, lackierte Eichentür zu und klingelte sofort, als habe sie es eilig, wieder aktiv zu werden.
Als sich der Türflügel öffnete, sahen sie ein Gespenst vor ihnen stehen, einen etwa fünfundvierzig Jahre alten, mittelgroßen Mann in Cordsamthose und dickem Wollpulli. Er hatte feine Gesichtszüge, trug einen Seitenscheitel und eine Hornbrille. Frische Bartstoppeln warfen einen Schatten über sein Gesicht und unterstrichen seine graue Gesichtsfarbe. Seine geröteten Augen verrieten, dass er geweint hatte.
»Monsieur Jacquet?«
»Ja?«
»Leutnant Julia Drouot. Kriminalpolizei.«
Der Mann reagierte kaum. Er trat einen Schritt zur Seite, um sie hereinzulassen. François stellte sich vor, wobei es ihm peinlich war, dass sie einfach so hereinplatzten. Als er an dem Zeugen vorbeiging, nahm er eine leichte Alkoholfahne wahr.
Jacquet geleitete sie wortlos in den Salon. In dem großen Raum mit der hohen Decke roch es nach Wachs. Er war mit rustikalen Stilmöbeln aus dunklem Holz eingerichtet. An einer Wand fiel dem Profiler eine Darstellung des Christus am Kreuz ins Auge, die unauffällig war, aber dennoch sehr präsent. Genau darunter stand auf einem kleinen, runden Tisch ein Foto des Jungen, versehen mit einem Trauerflor. Pierre. Blond, ordentlich gekämmt, kleine Brille – er sah aus wie ein Kommunionkind.
Jacquet ließ sich auf ein großes, beiges Sofa fallen. Ohne dass er es ihnen angeboten hätte, nahmen die Polizisten ihm gegenüber Platz. Ein niedriger Tisch trennte sie, auf dem einige Exemplare des Figaro Magazine lagen. Auf einer der Zeitschriften standen ein Glas und eine weitgehend geleerte Flasche Glenfiddich.
François fühlte sich unwohl. Diese Art von Situation war wahrscheinlich das Schlimmste, was ihm in seinem Beruf passieren konnte. Die Familie eines Opfers befragen. Das Messer in der Wunde umdrehen. Salz in die noch frische Wunde streuen. Wie durch einen Spiegeleffekt spürte er dieses Leid doppelt so stark. Es rief ihm eine ähnliche Szene in Erinnerung, in der ihm ein Schnurrbärtiger mit leerem Blick Dianes Tod verkündet hatte.
Nach ein paar Sekunden des Schweigens riss er sich zusammen, um die Sache ordentlich hinter sich zu bringen.
»Monsieur Jacquet … Ich weiß, das ist jetzt für Sie nicht angenehm, aber wir müssen Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen.«
Der Mann hob den Kopf. Er schien auf einer Ätherwolke zu schweben.
»Ich habe Ihren Kollegen bereits alles gesagt. Sie haben heute Morgen meine Aussage aufgenommen, als ich zur Identifizierung von …«
Der Satz blieb in der Luft hängen. Er war außerstande, den Namen seines Sohnes auszusprechen. Ihn mit diesem Wahnsinn in Verbindung zu bringen.
»Es wird nicht lange dauern …«
Marchand verstummte ebenfalls. Er wäre jetzt lieber irgendwo anders gewesen, egal wo. Julia saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da und fühlte sich schlecht.
Schließlich machte der Kommissar mit einer ganz harmlosen Frage den Anfang.
»Ihre Frau ist nicht da?«
»Sie ist in ihrem
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