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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Descosse
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erhob sich.
    »Danke, Doktor. Falls nötig, werden wir noch einmal Kontakt zu Ihnen aufnehmen.«
    »Aber gerne. Ich hoffe nur, dass Sie den Mörder fassen.«
    Händeschütteln. Versuch eines Lächelns. Er brachte die Ermittler zur Eingangstür, unterdessen versuchte seine Frau, das Kind zu beruhigen. Bevor er sie ziehen ließ, sagte er noch, an den Kommissar gerichtet:
    »Nach Freuds Theorie haben die funktionellen Einschränkungen des Ichs nur den Zweck, den Konflikt mit dem Es zu vermeiden.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Das wissen Sie sehr gut. Wenn Sie Pierre besser kennenlernen wollen, dann überlegen Sie, wie es wohl in seinem Unbewussten ausgesehen hat. Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erklären.«
    24
    Sie litten.
    Das war es, was alle Opfer miteinander verband.
    François erklärte Julia, dass er zu diesem Schluss gekommen war. Aber zunächst legte er ihr dar, aus welchen Gründen Lucie sich bei reifen Männern prostituierte. Laut Aussage ihres Freundes Maxime handelte es sich um einen unverarbeiteten Ödipuskomplex. Es hatte nichts mit Geldschwierigkeiten zu tun, wie Stephen behauptet hatte.
    Julia schmollte ein bisschen. Dieses Detail hätte sie gerne früher erfahren. Aber der Profiler hatte ihr nur deshalb nichts davon erzählt, weil er es als nebensächlich angesehen hatte. Seit Dr. Boirons Enthüllungen bekam es eine andere Bedeutung.
    Pierre befand sich in derselben Lage wie Lucie. Sie litten beide – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – an demselben Unbehagen. Der Junge lebte in einem Haushalt, in dem er den Katholizismus gleichsam mit der Muttermilch eingesogen hatte. Sein Leben war wie das eines Priesters, bis ins kleinste Detail geregelt und gesegnet durch den Herrn.
    Trotzdem, wenn man dem Psychoanalytiker Glauben schenken mochte, so hatte das System ein Leck bekommen. Indem er immer nur Wege ging, die andere vorgezeichnet hatten, machte er sich kaputt. François war überzeugt, dass Pierre, um das weiter durchhalten zu können, ein bisschen Ballast hatte abwerfen müssen.
    Ganz wie Lucie.
    Die Frage lautete jetzt: Wie? Und mit wem?
    Dort verbarg sich wahrscheinlich die Tür, die sie zu dem Mörder führen würde.
    Julia fand die Theorie stimmig. Aber wo sollten sie anklopfen? Niemand im offiziellen Umfeld des jungen Mannes hatte ihm die Dosis an Freiheit liefern können, die er brauchte. Dieser geschlossene Kreis erstickte ihn mit noch größerer Gewissheit als eine Boa, die ihre Beute umschlingt.
    Sie mussten anderswo weitersuchen. Eine Parallelwelt, in der man ein wenig frische Luft schnappen konnte, die außerhalb der elterlichen Kontrolle lag und in die der Herrgott nicht hineinblicken konnte.
    Für den Anfang hatte François schon so eine kleine Ahnung.
    Zum Saint-Joseph-Gymnasium war es nur eine Viertelstunde zu Fuß, es lag am unteren Boulevard Gambetta. Die Polizeibeamten gingen dorthin. Dieses Pfaffennest schien der einzige Ort zu sein, an dem man vielleicht den Anfang des roten Fadens finden könnte. Vielleicht gab es ja einen Klassenkamerad, der nicht ganz so indoktriniert war wie die anderen, oder aber eine Bar, in der Jugendliche verkehrten. Alles Möglichkeiten, die Pierre offengestanden hatten und von denen er vielleicht heimlich Gebrauch gemacht hatte.
    Der Kommissar blieb vor einem großen wasserblauen Portal stehen. Rechts davon gab es eine kleine Holztür mit einer Sprechanlage. Er klingelte. Fast augenblicklich ertönte eine Stimme:
    »Ja?«
    »Polizei.«
    Ein Klicken. Sie betraten ein ausgebautes Wächterhäuschen, das aus einem Warteraum und einem winzigen Büro bestand, das sich hinter einem Glasfenster verbarg. Blassblauer Anstrich, Grünpflanze und Eichenbank. Ein an der Wand hängendes Kruzifix gab dem Raum seine Note.
    »Was ist los?«
    Ein Mann erwartete sie. Oder besser gesagt, ein langes, dürres Gestell, an dem ein verblichener Anzug schlotterte. Seine gelbliche Gesichtfarbe verriet den langjährigen Kettenraucher.
    François erkundigte sich:
    »Sind Sie der Portier?«
    »Ja.«
    »Wir ermitteln im Mordfall Pierre Jacquet.«
    Zerknirschte Miene.
    »Verstehe … Schrecklich, was da passiert ist.«
    »Könnte uns jemand empfangen?«
    »Also … es ist jetzt sechs Uhr. Die Schulstunden sind alle vorbei.«
    »Hier gibt es doch bestimmt einen Zuständigen, oder?«
    »Pater Charles. Das ist der Studienpräfekt. Aber ich glaube, er ist schon gegangen.«
    »Dann suchen Sie einen anderen.«
    Der Mann nickte unterwürfig und verschwand in seinem kleinen

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