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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Descosse
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nickte. Das Ritual des Mörders als dasjenige einer biblischen Renaissance anzusehen, darin lag ein Widerspruch. Die Vorgehensweise hatte nichts genuin Christliches. Es handelte sich eher um ein heidnisches Ritual, bei dem die Bezugnahme zur Erde jetzt einen Sinn ergab. Der Mann wollte seine Haut wechseln, sich von einer unpassenden Hülle befreien. Und vor allem wollte er nicht bis in alle Ewigkeit darin gefangen bleiben.
    François sah Boiron an. Dieser Psychoanalytiker glaubte an Gott, nicht an die Seelenwanderung. Seine Gewissheiten sprachen ihn von jeder Schuld frei. Sie mussten die Sache anders angehen.
    »Was für eine Beziehung hatten Sie zu Pierre Jacquet?«, fragte er.
    »Ich habe ihn nur einmal gesehen. Und zwar bei diesem Treffen.«
    »Was haben Sie über ihn gedacht?«
    »Ein intelligenter Junge. Gläubig, aber verhaltensgestört.«
    »Verhaltensgestört?«
    »Ich hatte noch keine Zeit, mich eingehender mit meiner Analyse zu beschäftigen. Das lag allerdings nicht an dem Ort. Ich habe einfach gespürt, dass er etwas verbarg.«
    Diese Eröffnungsrede war einfach zu schön.
    »Sie sind Psychoanalytiker. Ich bin mir sicher, Sie können das noch genauer sagen.«
    Boiron machte ein ernstes Gesicht. Marchand hatte an seine Praxiserfahrung appelliert. An die Fähigkeit, innerhalb der ersten Minuten eines Gesprächs eine Diagnose zu stellen. Er wusste, dass er darauf reagieren würde.
    »Das ist heikel. Ich habe nicht genug Abstand dazu.«
    »Ihr Eindruck würde mir schon genügen.«
    »Ich hatte den Eindruck, dass Pierre unter dem ›Braver-Sohn-Syndrom‹ leidet. Kein Wort lauter als das andere, immer einverstanden mit den Erwachsenen, immer perfekt.«
    Der Profiler wusste, wovon er sprach, aber er ließ ihn weiterreden.
    »Diese Art von Persönlichkeit bildet sich als Reaktion auf ein entwertetes Selbstbild heraus. Das Subjekt glaubt von sich, den Anforderungen nicht genügen zu können, und setzt alles daran, dass der andere, in diesem Fall seine Eltern oder alle, die in irgendeiner Form eine Autorität verkörpern, ihn für gut halten. Daraus zieht er unmittelbare Befriedigung, in dem Sinne, dass er sich wieder sicher fühlt, aber oftmals muss er das mit seiner psychischen Gesundheit bezahlen. Mit anderen Worten, indem er sich ständig zurückhält, schwächt er sich selbst.«
    »Und wozu hätte das, konkret gesprochen, bei Pierre führen können?«
    »Da fragen Sie mich zu viel. Mir waren während unserer Diskussion nur zwei oder drei Reaktionen aufgefallen, die ein bisschen ungewöhnlich waren. Eine permanente Verärgerung, Absenzen. Aber er hatte sich unter Kontrolle.«
    »Vermuten Sie eine Art latente Depression?«
    Boiron warf ihm einen durchdringenden Blick zu. François kannte das nur allzu gut, um nicht zu wissen, dass er sich fragte, mit wem er es eigentlich zu tun hatte.
    »Das ist die Diagnose, zu der man in den meisten Fällen gelangt. Wenn diese falsche Persönlichkeit keinen Weg findet, der zur Heilung führt, dann wird der Mensch krank.«
    »Also Rückzug auf sich selbst, Ängste, Hemmungen …«
    Diesmal lächelte der Psychoanalytiker wissend. Die Schlussfolgerungen des Profilers waren für ihn eine Bestätigung der Annahme, dass er dazugehörte.
    »Unter anderem, aber so weit war Pierre noch nicht.«
    Stille folgte seinen Worten. Eine Stille, wie François sie oft in seiner Praxis erlebt hatte. Die unentbehrliche Schleuse, durch die man gehen musste, bevor man die Tür zu den geistigen Assoziationen öffnen konnte. Eine Theorie kam ihm ganz unweigerlich in den Sinn.
    Pierre. Lucie. Zwei Jugendliche, die unter etwas litten. Zwei Persönlichkeiten auf der Suche nach sich selbst. Dem vorbildlichen Sohn war es wahrscheinlich viel schlechter gegangen, als Boiron vermutet hatte. Die Turnübungen der jungen Frau im Bett fremder Männer waren vermutlich eine Reaktion auf ihren Vater gewesen und hatten nur gezeigt, wie sehr sie aus dem Gleichgewicht geraten war. Eine unerwartete Gemeinsamkeit war ihre Zerbrechlichkeit, und die hatte der Mörder gespürt. François stellte sich plötzlich einen kranken Therapeuten vor, einen Guru, dem das Opfer über den Weg gelaufen war. Niemand außer ihnen selbst wusste von dieser Beziehung. Sie gehörte ihnen ganz allein wie eine einzige Perle der Wahrheit in einem vorgetäuschten Leben.
    Geschrei holte ihn wieder in die Realität des Wohnzimmers zurück. Das Baby hatte seinen Schnuller verloren und tat das lautstark kund. François nutzte die Gelegenheit und

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