Wer Boeses saet
verstehen …
Er antwortete lakonisch:
»Genießbar.«
»Morgen sechs Kilometer joggen. Da führt kein Weg dran vorbei.«
Der Kommissar lächelte. Diese Art von Vergnügen stand nicht auf dem Programm. Er hatte noch nichts Großes vorzuweisen und musste einen Zahn zulegen.
François’ Handy vibrierte. Ein Blick aufs Display: Hénon.
»Hallo, Roger. Noch nicht im Bett?«
»Nein, kann man nicht gerade behaupten …«
Der Tonfall, die Uhrzeit: sicher schlechte Neuigkeiten.
»Was ist passiert?«
»Ich glaube, er hat noch einmal zugeschlagen.«
»Noch ein Mord?«
»Noch eine Schlächterei, wolltest du sagen. Der Schädel des Opfers ist gekocht. Und vom Rest will ich lieber schweigen. Mehrere Messerstiche, falls man angesichts der Größe der Stiche von Messer sprechen kann.«
Dem Profiler waren offenbar die Gesichtszüge entglitten. Deutlich genug, dass Julia ihm fragende Blicke zuwarf.
Er hörte Hénon weiter konzentriert zu.
»Noch ein Jugendlicher?«
»Eine junge Frau. Sechzehn Jahre alt. Ihre Eltern waren zum Essen gegangen. Sie haben sie beim Nachhausekommen gefunden.«
»Ist es bei Ihnen zu Hause passiert?«
»In der Küche. Vor einer halben Stunde.«
Marchand sah auf die Uhr – null Uhr achtundzwanzig. Immer dasselbe Zeitfenster.
»Wo?«
»Bagnolet. Ein Loft. Forestier hat mir Bescheid gegeben. Seine Leute sind schon vor Ort.«
Guillaume Forestier. Der große Boss der Verbrechensbekämpfung im 93. Département. Ein alter Bekannter. An den François schlechte Erinnerungen hatte.
»Komm sofort zurück«, schloss Hénon, »wir müssen Zwischenbilanz ziehen.«
»Okay. Aber sag mir eines: Weiß man, ob das Mädchen vergewaltigt wurde?«
»Noch nicht. Die Autopsie findet morgen früh statt.«
François legte auf. Noch ein Verbrechen, dieses Mal im Pariser Vorortgebiet. Ein sechzehn Jahre altes Mädchen. Im eigenen Haus massakriert.
»Drei Morde … Jetzt haben wir ihn, unseren serial killer .«
Julia sprach diese Wahrheit mit müder Stimme aus. Marchand erläuterte ihr die Details, bevor er sagte:
»Außerdem handelt es sich eher um eine Art … cross killer .«
»Um was?«
»Einen nomadischen Serienmörder. Das FBI hat die Psyche dieser Täter ziemlich gut analysiert. Im Unterschied zum stationären Typus tötet er nie am selben Ort. Vor allem nicht im Umkreis seines Wohnortes. Wenn er sich seine Opfer aussucht, achtet er besonders auf die Einhaltung dieses Parameters. Weil er weiß, dass es dann schwieriger wird für uns.«
»Ein ›Genie‹ des Verbrechens?«
»Ein hochentwickeltes Raubtier, psychisch total gestört. Aber eines, das um seinen Wahnsinn weiß, was es nur umso gefährlicher macht.«
Sie schwiegen düster. Über ihren Köpfen zog der große Weiße Hai seine Kreise.
François brach das Schweigen: »Ich muss zurück.«
»Wann?«
»Morgen früh.«
»Soll ich Sie begleiten?«
»Diesmal nicht.«
Er schwieg. Plötzlich hatte er eine ganz unerwartete Assoziation. Charlotte. Sie war kaum älter als das letzte Opfer. Auch sie verbrachte ihre Abende allein, saß in der Wohnung und wartete, während er sich draußen herumtrieb. Da konnte man doch verrückt werden.
»Geht’s Ihnen gut?«
Julia hatte dem Kommissar die Hand auf den Oberschenkel gelegt. Er nickte schwach.
»Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher.«
In Wahrheit ging es ihm überhaut nicht gut. Eine Angstattacke meldete sich an. Der quälende Gedanke, Charlotte sei vielleicht in Gefahr – mochte er noch so absurd sein –, ging ihm nicht aus dem Kopf. Er wusste, dass er hier von seinen eigenen Schuldgefühlen genarrt wurde, aber er konnte das Ruder nicht mehr herumreißen.
Er stand auf und schnappte sich seine Weste. Dann ging er ins Badezimmer, in der festen Absicht, diskret eine Xanax-Tablette einzuwerfen.
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.«
Er drehte sich um.
»Wie bitte?«
»Ich weiß sehr wohl, was Sie tun wollen.«
»Ich will mich nur erfrischen.«
»Warten Sie … Ich habe in meinem Leben genug Chemie geschluckt, um sagen zu können, wenn jemand unter Medikamenteneinfluss steht.«
»Was reden Sie denn da? Ich habe überhaupt keinen Grund …«
»Jetzt mal ehrlich, für einen Bullen lügen Sie echt schlecht.«
Entlarvt. Er, der Psychoanalytiker, der sich eigentlich im Griff haben und in der Lage sein sollte, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten, um seinen Patienten den Weg zu weisen. Er sah aus wie ein kleines Kind, das mit der Hand in der Tasche erwischt
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