Wer braucht schon Liebe
gut. Er hat sie aufgeheitert an einem Tag, an dem sie Ablenkung gebrauchen konnte. Und er lenkt mich ab. Er ist überhaupt ziemlich ablenkend. Ich betrachte ihn, während Gran sich endgültig von ihm verabschiedet. Am liebsten würde ich die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren. Aber diejenige, die die Hand nach ihm ausstreckt, ist meine Gran. Sie beugt sich vor und küsst ihn auf die Wange.
Mir fällt die Kinnlade runter. Und sie fällt noch weiter runter, als Gran sagt: » Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand dich ätzend finden kann.« Dann sieht sie direkt zu mir. Und ich möchte mich am liebsten in Luft auflösen.
Auf dem Weg zum Auto hat er ein breites Grinsen aufgesetzt. » Du hast deiner Gran also von mir erzählt?«
Verdammt.
» Ich fühle mich geschmeichelt.«
» Dazu hast du keinen Grund. Es waren nur Beschimpfungen.«
Er lacht. Wir steigen ins Auto. » Ich fühle mich trotzdem geschmeichelt.«
» Also, noch mal nach Wicklow?«, frage ich und hoffe, damit das Thema wechseln zu können.
» Ich habe gedacht … wir könnten deine Mom besuchen. Wenn du willst.«
» Du meinst, da wo sie begraben ist?« Ich bin entsetzt.
Er zuckt mit den Schultern.
» Ich schleppe dich nicht auf einen Friedhof. Und ich schleppe mich nicht auf einen Friedhof.«
» Okay.«
» Friedhöfe sind die traurigsten und deprimierendsten Orte auf der Welt. Ich will nicht mal daran denken, dass meine Mum auf einem Friedhof liegt. Wenn ich ihr nah sein will, dann gehe ich zum Strand oder nach Killiney Hill. Sie hat Killiney Hill geliebt.«
Er lässt den Motor an. » Willst du dahin?«
Ich will, aber … » Was für ein …« – ich versuche, ein besseres Wort zu finden, aber mir fällt keins ein – » Date wäre das?«
Er lächelt. » Ich dachte, es wäre kein Date.«
» Du weißt genau, was ich meine.«
Wir legen einen Zwischenstopp ein, um Homer aufzulesen, der Gassi geführt werden muss und der den Hill liebt. Er sitzt hinten im Fußraum und steckt den Kopf zwischen unseren Sitzen nach vorn, damit er nichts verpasst. Als wir am Hill ankommen, springt er aus dem Auto und rennt auf die Bäume zu. Wird langsamer und bleibt stehen, schnüffelt herum, während wir zu ihm aufschließen. Unter den Kiefern ist es dunkel. Homer kommt zu uns, dreht sich dann um und läuft voraus wie ein Scout, der uns führt. Kiefernnadeln federn unsere Schritte ab. Wir machen kaum ein Geräusch. Der Boden steigt allmählich an. Frei liegende Baumwurzeln wachsen quer über unseren Weg. David nimmt meine Hand. Homer kommt immer wieder zu uns zurückgerannt, duckt sich nieder und springt hoch.
» Was macht er da?«, fragt David.
» Er will, dass du ihm einen Stock wirfst.«
David sieht sich um, findet einen und wirft ihn weit weg. Homer stürmt davon. Er kommt mit dem Stock zurück und bringt ihn zu David. David greift danach, sagt » braver Junge«, aber kurz bevor er ihn zu fassen kriegt, weicht Homer nach links aus und rennt davon. David sieht mich an.
» Du musst ihm den Stock abjagen.«
» Ich dachte, das ist ein Retriever. Sollte er da nicht die Sachen zurückbringen?«
» Homer ist die Ausnahme von der Regel.«
» Hast du ihn nicht abrichten lassen?«
» Ich habe ihn selber abgerichtet. Glaub mir. Ihn zu fangen macht viel mehr Spaß.«
Vor allem den Zuschauern. David rennt auf den Hund zu, ist sich sicher, dass er den Stock diesmal kriegen wird. Homer duckt sich weg und trottet mit gespitzten Ohren davon wie ein stolzes Tier, das sich nicht aus der Ruhe bringen lässt. David greift wieder an. Mit einer leichten Kopfbewegung weicht Homer ihm aus. Er beschließt, David eine Chance zu lassen, und schiebt den Stock so zurecht, dass ein langes Stück seitlich aus seinem Maul ragt.
» Sag mir, dass er das nicht absichtlich gemacht hat.«
» Doch, hat er.«
» Nicht zu fassen«, sagt er mit widerstrebendem Respekt. Ohne Vorwarnung sprintet er plötzlich wieder auf den Hund zu.
» Ein bisschen Hilfe wär nicht schlecht!«, ruft er mir zu.
Wir jagen Homer, bis wir ganz außer Atem sind, brechen auf dem Boden zusammen und liegen dort, bis wir wieder normal Luft holen können. Homer schnüffelt wieder in der Gegend herum. Durch die Zweige schaue ich hinauf in einen hohen Himmel. Dann fällt mir Mum wieder ein. Wegen ihr sind wir nach Killiney Hill gekommen. Aber in den letzten zehn Minuten habe ich überhaupt nicht an sie gedacht. Jeden Tag trage ich sie bei mir. Aber heute, an ihrem Geburtstag, habe ich sie vergessen.
» Geht es
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