Wer hat Alice umgebracht?
ich hatte ja noch nicht mal einen Reisepass und erst recht kein Geld. Auch meine Eltern waren alles andere als wohlhabend. Außerdem würde mich die Polizei sofort kassieren, wenn ich mit ihnen Kontakt aufnahm. Das war vollkommen klar.
Egal, wie sehr ich es versuchte – so ganz konnte ich meine trüben Gedanken nicht verdrängen. Aber wenigstens erinnerte ich mich inzwischen immer mehr an Details aus der Tatnacht. Ich war hundertprozentig sicher, dass ich noch nie in der Pension in Easterhouse gewesen war. Als ich mit meinem Studium begonnen hatte, waren die anderen „Frischlinge“ und ich in der Einführungswoche vor bestimmten Glasgower Stadtteilen gewarnt worden. Easterhouse war eine richtige No-go-Area, in die man vor allem nachts keinen Fuß setzen sollte. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, mich dort herumzutreiben. Es gab dort nämlich nichts – keine Kinos, keine Discos, keine angesagten Bars. Der einzige Grund, nach Easterhouse zu fahren, wären Drogen gewesen. Die konnte man dort kaufen. Und von dem Zeug ließ ich die Finger. Aber warum hatte sich Alice Wright in dieser üblen Gegend eingenistet? Das ergab für mich einfach keinen Sinn. Soweit ich wusste, lebte sie normalerweise nämlich in einem sehr schönen Apartment in der Nähe der Kunsthochschule. Sie hatte einen Nebenjob als Kellnerin in einer Cocktailbar, in der die Trinkgelder so üppig waren, dass sie sich diese Bleibe leisten konnte. Bei ihrem umwerfenden Aussehen hatte Alice nicht schlecht verdient. Von zu Hause hatte sie keine Unterstützung erwarten können, denn sie war ein Waisenkind.
Warum war Alice plötzlich in diese Bruchbude im Slum gezogen? Ob einer der Gäste aus der Cocktailbar ihr Komplize war? Aber warum dann der Wechsel in das Elendsviertel? Das ergab für mich alles keinen Sinn. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Und ich war sehr dankbar, als nach einigen Stunden zumindest Elliot wieder auftauchte. Der Alte blinzelte mir lächelnd zu.
„Hast du Neuigkeiten, Onkel Arthur?“
„Ich will noch nicht zu viel verraten. Zuerst möchte ich einen Tee, wenn es recht ist. Meine Zunge ist zu ausgetrocknet, um längere Reden zu schwingen.“
Ich hätte die Wände hochgehen können, so ungeduldig war ich. Aber ich wusste noch aus meiner Praktikumszeit, dass Elliot es gerne spannend machte. Wenn ich jetzt nachbohrte, würde ich überhaupt nichts erreichen. Also ergab ich mich seufzend in mein Schicksal und kochte eine frische Kanne Tee.
Als ich dem Bildhauer die erste Tasse eingegossen hatte, fiel er plötzlich vor mir auf die Knie. Damit konnte ich nun überhaupt nicht umgehen. Aber wenigstens schaffte ich es, halbwegs schlagfertig zu reagieren.
„Was soll das denn, Onkel Arthur? Bist du verrückt geworden? Oder willst du auf deine alten Tage noch heiraten?“
„Weder noch, liebe Lindsay. Mit meinem Kniefall wollte ich meine Ehrerbietung ausdrücken, denn schließlich habe ich die Gewinnerin des Francis-Cadell-Stipendiums vor mir. Meinen allerherzlichsten Glückwunsch!“
Zuerst glaubte ich, Elliot wollte mich auf den Arm nehmen. Doch er sah mich weiter ernst an. Ich konnte nicht glauben, dass ich diese Förderung bekommen sollte. Das Francis-Cadell-Stipendium ist nach einem berühmten schottischen Maler benannt. Es wird jedes Jahr an eine besonders begabte Kunststudentin vergeben. Man bekommt 10.000 Pfund und darf außerdem ein Semester lang kostenlos an unserer Partner-Uni in Los Angeles studieren! Das bedeutet Unterricht bei einigen der besten Kunstprofs der Welt, und das unter der kalifornischen Sonne.
Ich schüttelte ungläubig den Kopf.
„Meine Bilder sind nicht übel, aber nie im Leben kriege ich dieses Stipendium, Onkel Arthur.“
„Doch. Ich habe mit meinem alten Freund Lucas Thompson von der Uni-Verwaltung gesprochen. Offiziell solltest du erst nächste Woche benachrichtigt werden. Ich fürchte nur, dass die Kunsthochschule ihre Meinung ändert, wenn sie von der Mordanklage gegen dich erfährt. – Das Stipendium ist übrigens ein erstklassiges Motiv, um dich aus dem Weg räumen zu wollen. Du weißt doch, wozu Menschen aus purem Neid fähig sind. Du kennst doch bestimmt auch die Redensart: Mitleid bekommt man geschenkt, Neid muss man sich verdienen.“
So weit hatte ich in diesem Moment noch gar nicht gedacht, doch Elliot hatte natürlich recht. Beschämt musste ich mir eingestehen, dass ich auch schon über andere Studentinnen gelästert hatte, wenn sie besser benotet worden waren als ich. Nein,
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