Wer hat das Rind zur Sau gemacht?
Winkeladvokaten. Auch wer mit seinem Pkw über eine rote Ampel fährt, wird bestraft, selbst wenn er den Sinn dieser Verkehrsregel nicht begreifen will.
Der Meister des Waldes dankt ab
Korrekt hingegen ist der Einwand der Lebensmittelindustrie, dass die Schädlichkeit des Cumarins in der Vergangenheit übertrieben wurde – diesmal nicht von Verbraucherschützern oder Journalisten, sondern von deren Kollegen aus den Propagandaabteilungen der Chemieindustrie. Cumarin hat eine wechselvolle Geschichte. 1954 wurde Cumarin von der amerikanischen Lebensmittelbehörde FDA verboten, denn es entfaltet schädliche Wirkungen auf Hunde, die für diesen Stoff in der Tat besonders empfindlich sind. Als dann in den 1970er Jahren in anderen Tierversuchen auch noch eine krebserregende Wirkung beobachtet wurde, war der Skandal perfekt. Unter großem Medienrummel wurde das unrühmliche Ende der Maibowle sowie der bis dahin bei Kindern höchst beliebten Waldmeistersüßwaren und -getränke eingeläutet.
Doch das Verbot musste schon wenige Jahre später gelockert und durch einen Grenzwert ersetzt werden – auch deswegen, weil natürliches Cumarin nicht nur in Waldmeister, sondern auch in ziemlich vielen anderen beliebten Obstarten und Heilkräutern nachgewiesen werden konnte, als da sind Datteln, Brombeeren, Pfefferminze, Kamille, Lavendel, Erdbeeren oder Kirschen. 25,32 Während der Cumaringehalt hier meist niedriger als im Waldmeister liegt, ist er im bisher unbeanstandeten Lavendelöl fast genauso hoch. 7 Selbst das Verfüttern von Gras oder Klee an Nutzvieh wäre ohne Grenzwert «bedenklich» gewesen, schon der Duft frisch gemähten Heus beruht ja vorwiegend auf Cumarin.
Als vor Jahrzehnten zaghafte Kritik an der Agrochemie laut wurde, insbesondere am unbekümmerten Einsatz von Pestiziden, kam der Chemiebranche die Sache mit dem Waldmeister sehr gelegen. Voller Emphase präsentierte sie der Öffentlichkeit das beliebte Würzkraut als naturgegebene Gesundheitsgefahr aus Wald und Wiese, um ihre hausgemachten Probleme mit synthetischen Giften wie DDT und Konsorten herunterzuspielen. Doch dass die chemische Industrie Cumarin weiterhin unbekümmert als optischen Aufheller und Duftstoff in Waschmittel, Kosmetika oder Tabak mengte, zeigt, dass die Nummer mit der Maibowle wohl eher als politisches Manöver oder symbolischer Verbraucherschutz zu verstehen ist. Denn Cumarin wird mit den oben genannten Produkten sowohl eingeatmet als auch über die Haut resorbiert. 6,13
Zimtzicken
Bei ihrem Versuch, in Sachen Zimtstern das geltende Recht zu umgehen, spielte die Lebensmittelwirtschaft auf Zeit. Sie versprach den Behörden hoch und heilig, sich alsbald wieder an geltendes Recht zu halten. Im Gegenzug verzichteten diese auf eine Ahndung der Missetaten. Doch viele Hersteller kümmerten sich einen vorweihnachtlichen Dreck um ihre Zusage. Stattdessen wandten sie sich bei der Gelegenheit vertrauensvoll an die Politik. Und, Simsalabim, die Untersuchungsämter wurden zurückgepfiffen und veranlasst, Verstöße gegen geltendes Recht fürderhin nicht mehr zu verfolgen. 11 Wir dürfen vermuten, dass die ministerialen Verständnisträger identisch mit jenem Personenkreis sind, der stets den Verbraucherschutz in der Öffentlichkeit als höchstes Spruchgut lobt.
Statt die Hersteller nach Recht und Gesetz zu verdonnern, den schmackhafteren und zugleich cumarinfreien, aber teureren Ceylonzimt einzusetzen und die bereits ausgelieferten Cassiasterne zurückzurufen, wandten sich die Behörden an die Kunden und verkündeten ihnen frohbotschaftliche Verzehrsempfehlungen. Beispielsweise, dass ein Kind am Tag (gilt auch für die Weihnachtsfeiertage) vier Zimtplätzchen essen dürfe oder aber einen Lebkuchen. Oder einmal die Woche Milchreis mit Zimt. Oder, oder, oder … Seither liegt der Schwarze Peter beim Verbraucher. Die Idee ist ausbaufähig und öffnet dem vorbeugenden Gesundheitsschutz ganz neue Perspektiven: Zu viel Algengift in Muscheln? Essen Sie pro Mahlzeit nicht mehr als zwei Exemplare und diese auch nur einmal im Monat. Oder ersetzen Sie die Weichtiere durch softe belgische Muschelpralinen. Zu viel Pyrrolizidin in Rucola? Kein Problem: Betrachten Sie den Salat als Augenschmaus, aber lassen Sie die Finger davon! Bleibt die Frage: In welcher Zimtrepublik leben wir eigentlich?
Ist der Verzehr von Cassiazimt tatsächlich so riskant, wie Verbraucherschützer beteuern? Es stimmt schon: Cumarin wirkt in hoher Dosis bei Hunden und Ratten krebserregend.
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