Wer hat das Rind zur Sau gemacht?
Bei vielen anderen Tierarten, einschließlich des Menschen, ist dies jedoch nicht der Fall. 2,3,34,35 Damit verhält es sich mit Cumarin im Zimtplätzchen ähnlich wie mit Acrylamid in Bratkartoffeln. Außerdem beruhen die lebertoxischen Wirkungen, die man im Tierversuch beobachtet, auf der Bildung eines bestimmten Cumarin-Abbauprodukts. Und das entsteht beim
Homo sapiens
gewöhnlich nur in sehr geringer Menge. 23 Insofern ist die geplante Aufhebung der Höchstmenge durch die EU leicht nachvollziehbar.
Aber dann machte das deutsche Bundesinstitut für Risikoforschung (BfR) eine Lücke in der Sicherheitsbewertung aus: Es verwies auf Probleme bei der Verwendung von Cumarin als Medikament, zur Behandlung von «Venenschwäche». In Frankreich waren bei einigen Krebspatienten Leberprobleme beobachtet worden; auch aus Australien lagen mehrere Berichte von Leberschäden vor. 4 Offenbar gibt es einzelne Personen – mit vorgeschädigter Leber –, die empfindlich auf Cumarin reagieren. 1 Daneben kann der Stoff bei Nierenpatienten zu Hautnekrosen führen. 28 Aber wer Schwerkranke zum Maßstab für toxikologische Bewertungen erhebt, wird sich schlussendlich nur noch von Haferschleim ernähren dürfen.
Das BfR verweist darauf, dass die Cumarinmengen in Cassiazimt um den Faktor 10 über den Gehalten in Waldmeister oder Lavendelöl liegen können. 5 Insofern ist die defensive Haltung der Behörde durchaus nachvollziehbar; schließlich will sie sich in einer solch aufgeheizten Atmosphäre nicht «Verharmlosung» vorwerfen lassen. Doch sind diese Befunde für den Verbraucher wirklich relevant? Man fragt sich, warum die Leberprobleme nicht in all denjenigen Ländern besonders auffällig sind, wo Tag für Tag weitaus höhere Mengen an Cassiazimt verspeist werden – und zwar nicht nur zur Weihnachtszeit, sondern ganzjährig. Da wäre zuerst ganz Asien zu nennen, namentlich das Ursprungsland China, wo Cassiazimt ein Grundbestandteil zahlloser Alltagsgerichte ist, oder Indien, wo er in traditionellen Gewürzmischungen wie Garam Masala steckt. Oder die Vereinigten Staaten, wo seit jeher nur mit Cassia statt mit Ceylonzimt gebacken und gewürzt wird. 29,30,36
Wenn die Behörde die Lebern der Bürger schützen möchte, wäre sie besser beraten, laut und deutlich vor Greiskraut im Rucolasalat oder vor Grapefruits zu warnen. Denn die enthalten wirklich brisante Lebergifte, nämlich die Pyrrolizidine oder Furocumarine (siehe das Kapitel über gebundene Rückstände). Letztere sind ziemlich giftige Verwandte des Duftstoffs Cumarin. Dann wäre die Position des BfR nicht allein ein taktisches Manöver, um der Kritik der Verbraucherschützer zu entgehen, sondern tatsächlich vorbeugender Gesundheitsschutz.
All diese Bewertungen haben also ihre Tücken, und die Übertragung von Ergebnissen aus Tierversuchen auf den Menschen ist ein heikles Geschäft. Vor allem dann, wenn man bedenkt, dass der Mensch sich in einem speziellen Detail von einer Laborratte unterscheidet: Der freilaufende
Homo sapiens
ist im Gegensatz zu einem genetisch einheitlichen Laborrattenstamm in der Regel eine Promenadenmischung. Jeder einzelne ist ein Unikat mit ganz unterschiedlichen Entgiftungskapazitäten. Da es für jedes Lebewesen überlebenswichtig ist, eine Giftaufnahme zu vermeiden, hat jeder von uns auch dafür ein biologisches Erkennungsprogramm mit auf den Lebensweg bekommen: Beim Verzehr von Nahrungsmitteln gibt es eine Rückkopplung über den Geschmack und Appetit. Wer ein Lebensmittel nicht verträgt, mag es meistens nach kurzer Zeit nicht mehr.
Nimmt man aber Zimtextrakte in Kapseln ein, ob als Medikament oder Nahrungsergänzungsmittel, ist eine derartige Rückkopplung über die Geschmacksknospen unmöglich. Insofern gehen nicht von Weihnachtsgebäck oder Milchreis mit Cassiaaroma besondere Risiken aus, sondern vor allem von undefinierbaren Zimtpillen – aus der Apotheke, dem Internet oder von einem Strukturvertrieb –, die Tag für Tag hochdosiert als vermeintlich gesundheitsförderlich konsumiert werden.
Gesunde Mittelmeerkost?
Wer nach Risiken fahndet, wird natürlich vor allem dort fündig, wo es hinreichend viele toxikologische Untersuchungen gibt. Vergleichen wir deshalb einmal das Cassiazimtrisiko mit der Gefahr, die theoretisch vom Kaffee ausgeht: Von den etwa 1000 Inhaltsstoffen – die meisten davon sind nicht natürlich, weil durch Röstung entstanden – sind bisher 30 auf ihre krebserzeugende Wirkung überprüft; 21 davon waren in
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