Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)
noch eine ganze Weile hin und her. Schon seit einiger Zeit fand Kai ja, dass das Wort fremdschämen eine der besten Neuentdeckungen der Dudenredaktion war. Ein Wort, das präzise bezeichnete, was man wenigstens einmal am Tag empfand, und sei es nur abends bei den Fernsehtalkshows, wenn eine der politischen Sockenpuppen ihre klappernden Sprüche aufsagte. Doch wenn man sich gleich für zwei Leute schämen musste, wie jetzt Kai, wurde es zu einer schweißtreibenden Tätigkeit, die einem noch nicht mal wer vergalt.
Van Harm merkte durchaus, dass Winfried Jagoda gern einen lockeren Ton gefunden hätte. Ihm schien daran zu liegen, ein Gespräch mit dem etwas älteren Bruno zu führen, weshalb auch immer. Aber es klappte nicht, weil sich Bruno bis zur Grenze der Unhöflichkeit sträubte. Warum Bruno Winfried Jagoda nicht ausstehen konnte, ließ sich zumindest ahnen: dessen Herkunft aus dem Westen sowie sein Besitz von Privateigentum an Produktionsmitteln, den seine Viecher nun mal darstellten. Da war Bruno wahrscheinlich Marxist alter NVA -Schule geblieben.
Nach etwa fünf Minuten gab Winfried Jagoda schließlich auf, erhob sich, knurrte einen Abschiedsgruß und stampfte, auch er trug Gummistiefel, in die Gaststube hinüber.
Als hätte er nur auf den Abgang des Schweinemästers gewartet, sprang als Nächstes der Bürgermeister an Brunos Seite, Harald Dommasch.
»Bruno«, sagte er, »grüß dich.«
»Harald!«, rief Bruno, gab dem Bürgermeister die Hand, nahm einen Schluck Bier, zeigte dann auf Kai und sagte auf Hochdeutsch: »Dit hier is Herr van Harm aus Berlin.«
»Freut mich, Sie mal persönlich kennenzulernen«, sagte Harald Dommasch und reichte Kai die Hand. »Ich hatte ja schon einige Male das Vergnügen, mit Ihrer Frau ein paar Worte zu wechseln. Ist sie auch hier?«
»Nee, leider nich«, antwortete Bruno an Kais Stelle, »aber Herr van Harm is ooch nich zum bloßen Vergnüjen hier, wa?«
»Ja, könnte man so sagen.«
»Er schreibt nämlich – musste wissen, Harald – ein Buch über unsre schöne Jegend.«
» Was? «
»Etwa nich?«
»Äh – doch, doch«, sagte Kai, und dann, um vom Thema abzulenken, »aber mit der Frau wäre es natürlich schöner.«
»Wem sagen Sie dit?«, rief Bruno so laut aus, dass sich einige an den anderen Terrassentischen nach ihnen umdrehten, »meine Alte is schon lange weg, und Harald seine Jattin – nüscht für unjut, Harald – verstorben. Und die vom ollen Schweinepriester«, Bruno nickte zur Gaststättentür, »ooch nach Berlin abjehaun …«
»Und die Frau vom Wirt ist doch auch tot«, unterbrach ihn Kai, froh, sein neu erworbenes Wissen anbringen zu können.
»Stümmt, aber dit is noch mal ne andre Jeschichte für sich«, sagte Bruno, »aber eines kann man mit Fug und Recht behaupten: Wir in Altwassmuth ham’s hier nich so mit die Frauen, wa?«
Und weil sie so gut plauderten und immer tiefer hinein-gerieten in ihr Männergespräch zu dritt, packte der Bürgermeister seine Zigaretten auf den Biertisch und ließ sich neben Bruno nieder. Er bestellte eine Runde Bier, und als die getrunken war, noch eine, mit jeweils einem doppelten Korn dazu, den auch Kai an diesem Abend nicht verschmähte, während er immer wieder an den Hubschrauber denken musste und diesen komischen Frauenfluch, der auf Altwassmuth lag.
Um halb zwölf endlich, nachdem er ein paar Minuten zuvor seinen und Brunos Deckel bezahlt hatte, stand Kai van Harm in der kühlen Schlafstube seines Hauses, schwankte ein wenig nach links und dann wieder nach rechts, und hatte doch den Kopf so angenehm leergepustet wie seit Jahren nicht mehr. Und noch ehe er sich seiner staubigen Straßenklamotten entledigen oder auch nur den Entschluss dazu fassen konnte, fiel er vornüber ins Bett, schwer wie ein feucht gewordener Sack Zement.
… der Kommissar geht um
Dass Kai van Harm am nächsten Tag zu Hause blieb und nach dem späten Aufstehen am Mittag die Übergardinen vor die Fenster zog, war dem phänomenalen Kater geschuldet, der ihm in den Gliedern saß. Genauer gesagt, hockte er in Kais Nacken und hieb mit einem Vorschlaghammer gegen seinen Schädel und ließ ihm auf diese Art die Schläfen vibrieren. Ein konstanter Rhythmus, den auch mehrere Schmerztabletten nicht unterbinden konnten: Poch-pochpoch, poch-pochpoch!
Aus demselben Grund ignorierte van Harm auch alle sieben Anrufe, die an diesem Tag auf seinem Handy eingingen. Dreimal war es Constanze, die versuchte, ihn zu erreichen, zweimal von unterwegs
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