Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)
allesamt noch ein Lachen im Gesicht tragen. Aber dieses Lachen friert nun schlagartig ein.
Aus den Gräben rechts und links des Feldwegs klettert die Nachtpatrouille auf die Straße, gleichzeitig sitzen die Männer von der Ladefläche des Geländewagens ab und stürmen nach vorne. Auch sie sind mit Latten und Knüppeln bewaffnet. Die Berliner Jungs sitzen in der Falle.
Winfried Jagoda zündet sich eine Zigarette an, sehr langsam. Draußen, vor der Windschutzscheibe, rührt sich für ein paar Augenblicke niemand. Es scheint, als habe jemand eine Pausentaste gedrückt, als sei es ein Film, der dort auf der nächtlichen Dorfstraße ablaufe. Jagoda nimmt zwei tiefe Züge, dann klemmt er sich die Zigarette in den Mundwinkel und kramt aus seiner Sakkotasche ein Paar mit Quarzsand gefüllte Polizeihandschuhe hervor. Fast wie in Zeitlupe streift er sie über seine dicken Metzgerfinger, während draußen das Geschehen noch immer stillsteht. Er nimmt einen weiteren Zug, dann schnippt er die Kippe aus dem Fenster, öffnet die Wagentür, steigt gemächlich nach draußen. Er geht vier Schritte nach vorn. Alle Augen sind jetzt auf ihn gerichtet, auch die der sechs betrunkenen Jungs, bei denen der letzte Verdacht eines Lachens aus den Gesichtern verschwunden ist, die nun nichts weiter mehr ausstrahlen als pure Angst.
Jagoda lässt den Schlagstock ein einziges Mal in seinen linken Handschuh knallen, dann sagt er ganz ruhig: »Los!«, und das Unglück bricht über die Jungs herein.
Sie sind zu wenige, um sich gegen die Übermacht zu wehren, außerdem zu betrunken, um wegzurennen. Sie ergeben sich ihrem Schicksal, versuchen wenigstens die Köpfe zu schützen. Es knirscht, und es kracht, und man weiß nicht, sind es Knochen, die gerade brechen, oder bersten die Knüppel und Latten unter der Wucht der enthemmten Schläge. Schnell liegen alle Berliner am Boden, gekrümmt wie Embryos, die Arme vor den Gesichtern. Jetzt kommen zu den Schlägen Fußtritte dazu. Unter die grässlichen Geräusche, die Schlagwerkzeuge und Stiefel verursachen, mischen sich das Schmerzenswimmern der Opfer und das atemlose Keuchen der Angreifer.
Nur einer macht nicht mit: Wolf Kretzschmer. Wie paralysiert sitzt er noch immer auf dem Beifahrersitz von Jagodas Pick-up und starrt auf das Geschehen.
Zwei, vielleicht drei Minuten, vielleicht auch viel weniger sind vergangen, ohne dass die Schläger Kraft verlieren. An vielen der Knüppel und Baseballschläger sind Blutschlieren auszumachen, und auch der Kopfstein ist schon von Blut beschmiert.
»Die hätten die Jungens totjeprügelt, wenn nicht …«
»Ja?« Kai horchte überrascht auf, weil Bruno seinen bislang flüssigen Bericht plötzlich unterbrach.
»Ach, nüscht.«
»Wenn nicht was ?«
»Ach, verjisset.«
»Wenn nicht was , Bruno?«, beharrte van Harm.
»Na wenn nicht jemand einjeschritten wär.«
Kai überlegte einen Moment, während Bruno ihn schräg von der Seite ansah: »Und dieser Jemand warst du , hab ich recht?«
»Ja«, sagte Bruno und senkte den Kopf auf die Brust, als müsse er sich für diese Tat schämen. Oder als sei er schüchtern und fürchte sich vor einem Lob.
»Das ist doch kein Grund, Trübsal zu blasen. Mensch, du hast nicht nur die dämlichen Berliner Jungen gerettet. Du hast vor allem Jagoda und seine Freunde davor bewahrt, straffällig zu werden. Ich meine: so richtig straffällig. Von wegen Mord und Totschlag oder wie immer das heißt. Ich anstelle der Jungen würde diese Typen sowieso anzeigen. Von wegen gelebte Demokratie, dass ich nicht lache.«
»Stümmt«, sagte Bruno, und seine Miene hellte sich ein wenig auf, »so kann man’s natürlich ooch sehn. Daran hab ick ja nun jar nich jedacht.«
»Und wie ging es dann weiter?«
Dann also steht plötzlich »jener welcher« zwischen den Schlägern, weil er gesehen hat, dass die Situation drohte außer Kontrolle zu geraten. Die Ersten, die ihn erkennen, lassen ihre Knüppel sinken. Bruno aber geht direkt auf Jagoda zu und fängt dessen rechten Arm mitten im Schlag ab. Jagoda sieht ihn erstaunt an, aber weder wehrt er sich, noch versucht er ein weiteres Mal zuzudreschen, als »jener welcher« seinen Arm wieder freigibt. Diejenigen, die immer noch nicht mitbekommen haben, dass die Prügelorgie vorüber ist, bringt Wolf Kretzschmers dröhnende Stimme zur Ruhe, der aus dem Wagen gestiegen ist, mit der Baseballkeule herumfuchtelt und Dinge in die Nacht schreit wie »Schluss jetzt« und »Seid ihr denn alle wahnsinnig!«
Die
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