Wer ins kalte Wasser springt, muss sich warm anziehen
meine Mutter und streicht Honig auf ihre Brötchenhälfte. Die andere hat sie kommentarlos auf meinen Teller gelegt, wo sie willkommen ist. Wir sind ziemlich gut eingespielt in gemeinsamer Nahrungsaufnahme.
»Ich glaube, ich höre sie. Sie kommen zurück.«
Mit quietschenden Reifen bringt mein Vater das Auto vor der Hütte zum Stehen. Aus der Beifahrertür springt Mark, als würde er befürchten, dass der Wagen gleich in Flammen aufgeht. Auch sein Gesichtsausdruck wirkt, als sei er soeben nur knapp dem Tod entronnen. Seine Kleider und die meines Vaters sind zerrissen.
»Um Himmels willen! Wie seht ihr denn aus?«, ruft meine Mutter entsetzt. »Was ist passiert?« Doch niemand beachtet sie.
»Du fährst wie ein Irrer!«, blafft Mark meinen Vater an, der gerade seine Autotür zuknallt.
»Oh, ihr duzt euch jetzt?« Ich werfe meiner Mutter verschwörerische Blicke zu.
»Dein Dingsda behauptet, ich hätte Krebs«, wirft mein Vater mir hin.
Dingsda . Das klingt nicht so gut. Krebs allerdings auch nicht. Verwirrt schaue ich Mark an.
»Dein Vater hat ein Melanom«, sagt er grimmig.
»Habe ich nicht!«
»Zeig mal.« Ich mache ein paar Schritte auf meinen Vater zu. Der steht da und schnaubt wie ein wütender Bulle, als er merkt, dass auch noch meine Mutter von der Seite auf ihn zustürmt. Hinter ihm steht das Auto, auf der anderen Seite Mark. Der Fluchtweg ist abgeschnitten.
»An der Brust, links«, assistiert Mark.
Mama hebt das zerrissene Hemd an und betrachtet das Muttermal. »Es hat sich verändert. Seit wann sieht das denn so komisch aus?«
»Schon immer!«, raunzt mein Vater. »Dieser Quacksalber da hat doch keine Ahnung.«
»Vielleicht ist es dir ja nur nicht aufgefallen«, versuche ich ihn zu beschwichtigen. »Da sind ja auch Haare, du achtest sicher nicht besonders auf das Muttermal …«
»Ich weiß genau, wie das Muttermal aussieht!« Mein Vater reißt sich los, stürzt auf Mark zu und schüttelt ihn. »Wenn ich sterbe, dann nicht wegen Krebs, sondern weil du es mir eingeredet hast!«
»Carlo!« Meine Mutter wirft sich entsetzt zwischen die beiden. Mark weicht zurück und schaut mich hilfesuchend an.
»Ich glaube, wir fahren jetzt besser«, sage ich lahm.
Eine Viertelstunde später sitzen wir im Auto und lassen Bozen hinter uns. Meine Mutter wirkte ziemlich verstört, als wir die Taschen gepackt haben. Aber solange mein Verlobter dabei ist, lässt Papa nicht mit sich reden. Mark umklammert das Lenkrad und stiert auf die Straße. »Dein Vater muss zum Arzt.«
»Ich weiß.«
»Deine Mutter muss ihn dazu zwingen.«
»Ich weiß.«
»Ich bin kein Quacksalber.«
»Ich weiß!« Nervös knete ich meine Unterlippe. »Aber es hat keinen Sinn, wenn wir ihn zu dritt belabern. Meine Mutter hat ihn am besten im Griff, die bekommt das schon hin. Hoffentlich.«
Ein paar Minuten lang schweigen wir. Ich male mir die schlimmsten Krankheitsszenarien aus: mein Vater, bleich und dünn, in einem weißen Krankenhausbett, daneben weinend meine Mutter und ein Arzt, der auf ein Klemmbrett mit Blutwerten schaut und langsam den Kopf schüttelt. Mein Vater kann manchmal die Pest sein, aber ich hänge an ihm – weil ich weiß, dass er für mich immer nur das Beste will. Nur was das genau ist, da sind wir uns oft nicht so ganz einig. Mir kommen die Tränen bei der Vorstellung, er könnte bald sterben. Erst als Mark das Autoradio lauter stellt, wache ich aus meinen Horrorvorstellungen auf. Mit Don’t look back in anger liefern Oasis den passenden Soundtrack.
Mark beäugt mich vorsichtig von der Seite. »Was machen wir jetzt mit dem angefangenen Wochenende?«, will er wissen.
»Ich glaube, ich möchte nur noch nach Hause und aufs Sofa.«
»Meinst du nicht, dir würde ein bisschen Ablenkung guttun?«
»Woran hast du denn gedacht?« Wenn er jetzt Sex oder einen Stadionbesuch vorschlägt, flippe ich aus.
»Wir könnten meinen Vater besuchen«, sagt Mark zögernd. »Das Wochenende ist doch eh schon versaut, dann haben wir unseren Verlobungsantrittsbesuch wenigstens hinter uns.«
»Wieso? So schlimm ist Richard doch gar nicht.« Ich habe Marks Vater bislang immer nur abends zum Essen in einem Restaurant getroffen. Das war immer ganz nett. In seinem Haus war ich noch nie.
»Er nicht, das stimmt. Aber du kennst meine Stiefmutter noch nicht.«
»Weißt du was? Ich finde es tatsächlich tröstlich, dass deine Familie noch bescheuerter ist als meine.«
»Vielen Dank. So was hört man doch gern.«
Bei der nächsten
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