Wer ist eigentlich Paul?
explodieren die Feuerwerkskörper und in meinem Magen tausend kleine Champagner-Bläschen. Eine standesgemäße Art, das neue Jahr zu begrüßen. Besonders stolz bin ich darauf, dass ich mein Handy in der Stube liegen gelassen habe. Interessiert mich doch gar nicht. Ich bin total happy im Hier und Jetzt, kurz nach Mitternacht mit meinen Freunden auf dem Balkon unserer Hütte …
Als wir nach einer Stunde wieder hineingehen, streift mein Blick zufällig das Display meines Mobiltelefons. Oh. Eine Kurzmitteilung. Nicht weiter verwunderlich, am 1.1. um 1 Uhr. Bestimmt meine Mutter oder ein Bekannter. Ach, ich kann ja mal schnell gucken. Ist ja nur eine SMS.
«Ich danke dir für das letzte Jahr. Freue mich auf dich in 2003. Als Person. Als Frau. Als Geliebte. Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich vermisse. Kuss, Paul»
GAAAAAH. Die Silvesterraketen sind plötzlich in meinem Magen. Was soll das jetzt? Ich hatte mich schon darauf eingestellt, still, unbemerkt und sehr heldenhaft zu leiden, weil Paul natürlich nicht dran denken würde, mir einen Neujahrsgruß zu senden. Und jetzt tut er es einfach! Fast schon unverschämt. Und natürlich sind meine Gedanken nicht mehr in Österreich auf 1500 Metern Höhe bei Vroni, Marlene, Martin, Beate, Alexa und all den anderen, sondern bei Paul, der auch in den Bergen ist, irgendwo im Tirolerischen. Der Chor singt das Finale von Beethovens Neunter, und ich liege dazu im Geiste in Pauls Armen, schmiege mein Gesicht an seinen Hals, atme seinen Duft ein, der mich glücklich und willenlos macht, und küsse das kleine Muttermal auf seinem linken Schlüsselbein. Und Paul, Paul nimmt mein Gesicht in seine schönen Hände, sieht mich an und küsst mich. Und während er mich küsst, beginnt seine rechteHand auf meinem Körper umherzuwandern, bis ich schneller atmen muss und er auch, und dann flüstert er «Lass uns nie aufhören», dreht mich auf den Rücken und ich spüre seinen …
«Mariiiiie, Foto!»
«Hä?» Es blitzt in just dem Moment, in dem mein Gesichtsausdruck den höchstmöglichen Grad an Blödheit annimmt. Ich versuche, nicht an den E-Mail -Verteiler zu denken, der in den nächsten Tagen die «lustigen Partybilder von der Silvesterhütte» empfangen wird, und wende mich vorsatzgemäß wieder dem Hier und Jetzt zu. Ich wollte Paul vergessen und nicht zu Beethovens Neunter heiße Szenen mit ihm phantasieren! Zum Glück hat jemand die CD gewechselt. Wir hören jetzt hüttentaugliche Musik. «Langsam find’t der Dog sei End und die Nocht beginnt. In der Kärntner Strossn do singt aner Blowing in the Wind …» Mein Lied. Vroni und ich haben schon Kloanstehschlangen (weiblich, versteht sich) am Faschingsdienstag auf dem Viktualienmarkt, auf dem Oktoberfest und auf diversen Après-Ski-Partys mit diesem ST S-Lied unterhalten, sind absolut textsicher, und deshalb gröle ich auch jetzt automatisch und aus vollem Herzen mit. Je lauter ich singe, desto mehr verblasst Pauls Bild, und je wilder ich tanze, desto weniger deutlich kann ich seine Hände auf meinem Körper spüren. Später beginnen wir mit einem Spiel, das, soweit ich mich erinnere, zuletzt beim verlängerten Wandertag der 11. Klasse im Jahre 1992 zum Einsatz kam. Wir tranken Wodka Ahoi, und zwar um die Wette. Das geht so: Man schütte sich ein Päckchen Ahoi-Brause, bevorzugt mit Waldmeistergeschmack, auf die Zunge, kippe ein Stamperl Wodka hinterher und schüttle wie bekloppt den Kopf. Dann schlucke man das schäumende Gemisch auf einmal hinunter. Das Ergebnis sind lustige Niesanfälle, peinliche Digitalfotos und ein schnell erworbener Rausch … Nach der dritten Runde setze ich aus und beobachte lieber, wie Marco meinem Freund Tom beibringt, Wodka (ohne Ahoi) in die Kehle zu gießen, ohne zu schlucken. «Dashatmireinrussischerprinzbeigebracht»,erklärt Marco, «damalsinparis», er hebt den Zeigefinger und die Stimme, «undasbeste, sbesteisdran: duwirstgaaaanichbesoffendavon …» Es wird eine ausgelassene, lange Partynacht.
Morgens gegen fünf beschließe ich, dass es Zeit zum Schlafengehen ist, und schleppe mich in mein Bett. Ich weiß nicht, wie ich auf die blöde Idee komme, mir für den ersten Januar den Wecker (!) zu stellen, jedenfalls schalte ich dafür mein Handy wieder ein. Es piept. Meine Mutter? Ein Bekannter? Nein. Natürlich Paul. «Wäre jetzt so gerne bei dir.» ARGH, ich auch, Paul, aber weißt du nicht, dass ich mir vorgenommen habe, dich ab heute zu vergessen??? Wie
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