Wer ist eigentlich Paul?
klappte dann endlich, beim vierten Anlauf, ein Treffen im Biergarten. Ich gebe zu, ich war immer noch wahnsinnig neugierig auf diesen Kerl, der so eine faszinierende Mischung aus großem Jungen und erfolgreichem Mann darstellt. Wir unterhielten uns richtig gut, liebe Parkuhr, das kannst du mir glauben, so gut, dass ich total die Zeit vergaß und alles andere auch. Ich hörte mich selbst reden und ihm Dinge erzählen, die sonst niemand weiß, und ich wunderte mich darüber. Ich erzählte ihm sogar von meinem höchst albernen Traum: einmal Sex haben zum vierten Satz von Beethovens Neunter Symphonie. Das habe ich bisher nicht mal dir gestanden, Parkuhr. Paul lachte, aber er lachte mich nicht aus. Und als ich ihm eröffnete, dass auch er in meinem Traum durchaus eine gewisse Rolle spielen könnte, sah er mich drei Minuten lang schweigend an und fragte dann: «Darf ich dich mal küssen?» Ich nickte. Er fasste mich mit der Hand um den Nacken und küsste mich. Ich sag’s dir, liebe Parkuhr, ganz ehrlich – das war der beste Kuss meines Lebens. Besser sogar als mein erster, der vier
Stunden dauerte, damals mit siebzehn im Englischen Garten. Könnte ich mir einen Moment meines Lebens aussuchen, der sich von jetzt an bis in alle Ewigkeit wiederholt – ich würde diesen Kuss an einem gewittrigen Augustnachmittag im Biergarten der Max-Emanuel-Brauerei wählen. Gut, dass ich das nur dir erzähle, liebe Parkuhr, und nicht Paul. Er würde vermutlich finden, dass ich maßlos übertreibe.
Die Geschichte ging irgendwann weiter. Im September schliefen wir das erste Mal miteinander, Paul und ich. Ich weiß, liebe Parkuhr, es hört sich abgedroschen und kitschig an, aber es war, als hätte ich fast 28 Jahre lang darauf gewartet. Noch nie in meinem Leben habe ich einen Mann so sehr gewollt, noch nie habe ich mich so erotisch gefühlt wie mit ihm. Klar, Hormone, Gene, Chemie und so weiter, du hast sicher Recht, Parkuhr. Aber ist das nicht egal, wenn es so wunderschön ist? Während ich dir das erzähle, werde ich ganz kribblig, weil ich ihn, Paul, schon so lange nicht mehr gesehen habe und auch nicht weiß, wann ich ihn wieder spüren werde. Und damit wären wir (endlich, nicht wahr?) bei meinem Problem.
In meinem Leben existiert Paul momentan so gut wie nicht. Er hat schrecklich viel zu tun, ist vermutlich dauernd in der Weltgeschichte unterwegs und hat schlicht und einfach keine Zeit für mich. Auch nicht dafür, mir mal eine SMS oder Mail zu schreiben oder anzurufen. Ich glaube es ihm und akzeptiere es. Aber er fehlt mir so, liebe Parkuhr. Ich bin verrückt nach ihm, ich liebe sein Gesicht, die Art, wie er die Stirn in Falten legt, seine blonden Haare, seine grünen Augen, seine Stimme, seinen Körper, seine Hände. Ich liebe es, wie er riecht, wie er schmeckt,
wie er sich anfühlt, was er erzählt und wie er es erzählt. Ich liebe seine Stärke und seinen Mut, seinen Witz und seine Lebenslust, aber auch seine Unsicherheit, die ich manchmal spüre, seine Zweifel und seine dunklen Gedanken. Ich erzähle dir das jetzt nur, weil du es niemandem weitersagst, liebe Parkuhr. Aber manchmal, wenn ich allein im Auto unterwegs bin oder nachts nicht schlafen kann, erzähle ich Paul im Stillen, was ich ihm erzählen würde, wenn er bei mir wäre. Und ich kann hören, was er antwortet. Manchmal lacht er mich aus oder kritisiert mich. Oder aber er findet mich toll, je nachdem. Nein, ich spinne nicht. Es geht mir gut.
Weißt du, liebe Parkuhr, ich will ja gar nicht jammern. Mein Leben ist auch dann schön, wenn ich Paul nicht sehe, ich habe auch ohne ihn Spaß und bin manchmal sogar glücklich. Aber mir fehlt etwas, wenn er nicht da ist und ich nichts von ihm höre.
Ich weiß leider nicht genau, wie das für ihn ist. Ich weiß, dass er mich mag, dass er mich attraktiv und erotisch findet, dass er mich schätzt und gern hat. Ich weiß, dass er mich ein bisschen mehr mag als andere. Aber ich weiß zum Beispiel nicht genau, was er damit meint, wenn er schreibt: «Ich vermisse dich so sehr.» Seufz, vor einem Monat bekam ich diese SMS. Vermisst er nur den tollen Sex mit mir, oder fehle ich ihm auch? Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, was momentan in ihm vorgeht. Hat er mich für den Monat April auf Wiedervorlage gesetzt, weil er so viel zu tun hat? Verdrängt er die Gedanken an mich? Gibt es überhaupt Gedanken an mich? Oder sind seine Gefühle abgekühlt, hat er gar eine andere kennen gelernt, sich verliebt? Und konnte
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