Wer liest, kommt weiter
außer den Herstellern niemandem nützt und vielen schadet, dann wären das 0,43 Prozent: In Deutschland wären das von 80 Millionen Einwohnern immerhin eine Stadt mit 340 000 vor allem jungen Männern (also mehr als Mannheim Einwohner hat), in Österreich immerhin 36 000 (fast Dornbirn), in der Schweiz 34 000 (Schaffhausen).
Andererseits setzt die Computerspielindustrie heute mehr Geld um als die gesamte Filmindustrie – fast nur mit dem männlichen Teil der Weltbevölkerung. Warum das so ist und was das mit unserem Thema, dem Weiterkommen durch Lesen, genauer: dem Nichtweiterkommen durch Nicht-Lesen, zu tun hat, soll im zweiten Teil noch untersucht werden.
Jetzt aber zum Ausgleich noch ein lehrreiches Romankapitel:
Es gab
Ich sitze mit dem Trieler am Tisch, weil ich noch triele. Den Löffel kann ich schon selbst halten. Vor mir das Habermus. Alle haben einen Löffel. Alle essen damit vom Habermus. Es schmeckt. Ein Rest von früher. Ein Rest von gestern. Auch gestern gab es Habermus, weil es so gut war. Oben schwamm das Butterfett. Unten die Kratzede. Das Angebrannte, streifenweise mit dem Löffel weggekratzt, der siebente Himmel.
Es gab Habermus. Den abgeschöpften Rahm von der Rahmschüssel. Es gab Hirnle von der Frühjahrssau. Der Reihe nach Erdbeeren, Stachelbeeren, Zuckerbirnen, Frühäpfel. Es gab von allem.
Es gab Kopfweh, Fieber, Scharlach, Tod, ein Kinderspiel.
Der Flieder blühte in allen Himmelsrichtungen, angefangen hinter dem Holzschopf. Es gab den Flieder in allen fliedermöglichen Farben. Es sind nicht viele.
Für jeden, der durch die niemals geschlossene Haustür eintrat und dann an der Stube kurz klopfte, gab es zuerst einmal einen selbstgebrannten Willi.
Dies ist ein Kapitel des ersten Romans von Arnold Stadler: Ich war Einmal (1989), den er 2009 mit seinem zweiten und dritten Roman Feuerland (1992) und Mein Hund, meine Sau, mein Leben (1994) zu dem Entwicklungsroman Einmal auf der Welt. Und dann so zusammenfügte.
In diesem Kapitel erinnert sich Stadler an manches, was es in seiner Kindheit gab und heute in dieser Kombination nicht mehr gibt: den Trieler, wie das Lätzchen in Stadlers oberschwäbischer Heimat genannt wurde, das Habermus, also den Haferbrei, die ländliche Speise in seinem Heimatdorf Rast südlich von Meßkirch, das Hirnle von der Frühjahrssau, die Früchte im Jahreskreis, das Kinderspiel Kopfweh, Fieber, Scharlach, Tod, das an die Zeiten erinnert, als Kinder noch an Kinderkrankheiten starben, den Flieder und den selbstgebrannten Birnenschnaps Willi. Das alles erfahren wir beim Lesen, nicht ohne ein Gefühl der Nostalgie. Ref 36
Als erfolgreichster Propagandist des Lernens unter mehr als 50 Autoren, die seit 1980 in Weilheim gelesen haben, stellte sich übrigens, ganz unerwartet, Wolf Biermann heraus. Er sagte bei seinem Liederabend am 21. April 1994 u.a. folgendes, was erst in der Zeitung und dann im Jahresbericht zu lesen war:
Ich ging in Hamburg zur Oberschule, und ich war immer der Schlechteste in der Klasse. Und das ist keine eitle Rede eines Prominenten, der sich damit spreizt, daß er so dämlich war. Sondern ich hab’ sehr darunter gelitten, wenn ihr es genau wissen wollt ... Es gibt doch Leute, die einen guten Kopf haben, aber leider zu wenig gelernt haben ... Leute, die einen guten Computer haben, aber nichts auf der Diskette! ... Ich ärger’ mich darüber, wenn die Schüler in der Schule ihre kostbare Zeit versitzen und verblöden und verblödeln und nicht nutzen. Ich ärger’ mich übrigens über meine eigene Zeit. Ich hab’ von der 5. Klasse bis zur 10. Klasse, wo man eine so unglaubliche Kapazität in der Birne hat und so toll lernen kann, meine Zeit vergeudet...
Damals sang er auch das folgende Lied:
Bitte an mich (1978)
mach weiter! ja, so wie bisher
mein Freund, doch ich begehr
auch das: ich bitt dich, bitte mach
auch weiter
auch weiter
auch weiter a 1 s bisher!
Also – lernen wir! Am 23.8.2012 waren im Katalog der Zürcher Zentralbibliothek beim Stichwort »Lehrbuch« 40.324 Titel zu finden: Für jeden das passende Lehrbuch.
In diesem Buch aber kann es nicht darum gehen, alle Fachgebiete Revue passieren zu lassen. Vielmehr soll in neun Kapiteln überlegt und an einigen Beispielen gezeigt werden, in welchen Bereichen man beim Lesen etwas für das Leben lernen kann. Zunächst ein Blick ins Buch der Natur. Ref 37
14. Wer liest, lernt die Natur besser kennen
Daß wir etwa schön finden können, ist unsere wichtigste Begabung
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