Wer liest, kommt weiter
umfangreiche und komplexe Texte.
Die Schülerinnen und Schüler können
– den komplexen Zusammenhang zwischen Teilaspekten und dem Textganzen erschließen
– aus anspruchsvollen Aufgabenstellungen angemessene Leseziele ableiten und diese für die Textrezeption nutzen
– im Leseprozess ihre auf unterschiedlichen Interpretations- und Analyseverfahren beruhenden Verstehensentwürfe überprüfen
– die Einsicht in die Vorläufigkeit ihrer Verstehensentwürfe zur kontinuierlichen Überarbeitung ihrer Hypothesen nutzen [...]
– im Leseprozess ihr fachliches Wissen selbstständig zur Erschließung und Nutzung voraussetzungsreicher Texte heranziehen
In diesem Jargon geht das bis zum allerletzten Satz weiter: Die Schülerinnen und Schüler können die Stadien ihrer Schreibprozesse und Kompetenzentwicklung dokumentieren
Ihre Schreibprozesse und [ihre?] Kompetenzentwicklung dokumentieren? Arme Schüler, arme Lehrer. Mit solchen hochstaplerischen und zugleich einengenden Bildungsstandards wird der Deutschunterricht entwertet und die Freude am Lesen zur mühsamen Bewältigung umfangreicher und komplexer Texte.
Doch jetzt wieder etwas Schöneres. Ref 101
34. Drittes Fazit mit Hans Magnus Enzensberger
Hans Magnus Enzensberger: Altes Medium (1995)
Was Sie vor Augen haben,
meine Damen und Herren,
dieses Gewimmel,
das sind Buchstaben.
Entschuldigen Sie.
Entschuldigen Sie.
Schwer zu entziffern,
ich weiß, ich weiß.
Eine Zumutung.
Sie hätten es lieber audiovisuell,
digital und in Farbe.
Aber wem es wirklich ernst ist
mit virtual reality,
sagen wir mal:
Füllest wieder Busch und Tal,
oder: Einsamer nie
als im August, oder auch:
Die Nacht schwingt ihre Fahn,
der kommt mit wenig aus.
Sechsundzwanzig
dieser schwarz-weißen Tänzer,
ganz ohne Graphik-Display
und CD-ROM,
als Hardware ein Bleistiftstummel –
das ist alles.
Entschuldigen Sie.
Entschuldigen Sie bitte.
Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.
Aber Sie wissen ja, wie das ist:
Manche verlernen es nie.
Hans Magnus Enzensberger war im Winter 1993/94 »Fellow« im Berliner Wissenschaftskolleg. Am 14. April 1994 präsentierte er wie vor und nach ihm die anderen »Fellows«, was er während seines Aufenthalts in Berlin geschrieben hatte, und las einige Gedichte vor, darunter auch das Alte Medium, das in dem Band Kiosk. Neue Gedichte (1995) zu finden ist.
Damals schon wurden die meisten Vorträge mit Power-Point präsentiert, Enzensberger aber verzichtete auf digitale Hilfsmittel und trug ein Gedicht über die Buchstabenschrift vor – und über das Schreiben und Lesen von Gedichten. So wie der Dichter mit wenig auskommt, braucht auch der Leser wenig, um sich beim Lesen eines Gedichts von Goethe, von Gottfried Benn oder Andreas Gryphius eine Mondnacht, einen Augusttag oder eine Abendstimmung vorzustellen.
Und während der Leser das tut, hört er deutlich die »Stimme« des Autors, von der Schiller in seinem Distichon gesprochen hat: Wie der Dichter mit leiser Ironie »eine Zumutung« sagt, vielleicht das einzige deutsche Wort mit drei Us, und dann sieben Fremdwörter ausspricht: audiovisuell, digital, virtual reality, Graphik-Display, CD-ROM und Hardware.
Freilich ist nicht alles leicht zu verstehen, etwa der letzte Vers: Manche verlernen es nie. Ist das eine Umkehrung des Spruchs Manche lernen es nie? Oder des Sprichworts Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr: Was Hänschen gelernt hat, verlernt der große Hans nie mehr? Hans Magnus Enzensberger braucht sich jedoch nicht zu entschuldigen, wenn er den 26 schwarzweißen Tänzern treu bleibt: »littera« heißt ja nichts anderes als Buchstabe. Und alle Literatur besteht aus Buchstaben.
Wir sollten ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen von der schreibenden Zunft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Herzen dafür dankbar sein, daß sie beim Alten Medium bleiben und uns so die Gelegenheit geben, das von ihnen Geschriebene zu lesen, dabei nachzudenken, zu lernen und uns zu freuen und auf diese Weise weiterzukommen.
Was aber können wir lesen? Zu unserem Glück gibt es viele Bücher, die es verdienen, unsere Lieblingsbücher zu werden. Ref 102
Die 4. Frage: Was können wir lesen?
Wer mehr als 1000 Bücher hat, ist bestimmt schon einmal gefragt worden: »Hast du die alle gelesen?« Und hat vielleicht geantwortet : »Ja, die meisten!« Oder: »Nein, aber ich kenne und liebe sie alle!« Was aber ist mit den etwa 130 Millionen verschiedenen Büchern, die es
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