Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
war so zierlich, dass ihre Füße über dem Boden schwebten, als Timothy sich ganz aufrichtete. Sie sah aus wie ein Kind, das im Baby-Björn spazieren getragen wird.
»Okay, sieht gut aus«, meinte Timothy, als er die Geschirre wieder voneinander löste. »Also los, die erste Gruppe startet.«
»Ich liebe euch«, sagte Jessica mit zittriger Stimme, bevor Chris und sie mit ihren Tandempartnern aufs Flugzeug zugingen. Als das Flugzeug losrollte, warf Jessica uns noch einen ängstlichen Blick durchs Fenster zu. Auf einmal wirkte sie so jung. Zum ersten Mal wurde ich nervös, nicht weil ich mir um meine Sicherheit Sorgen machte, sondern um die Sicherheit derer, die ich mitgenommen hatte. Warum hatte ich bloß meine drei engsten Freunde mitgebracht? Ich musste an die Passage in dem Vertrag denken, in der es hieß, dass die im Notfall zu kontaktierende Person nicht im selben Flugzeug sitzen sollte. Ich hätte auch ein paar nicht so enge Freunde mitnehmen sollen, um das Risiko etwas zu streuen. Der Himmel war diesig, aber trotzdem irgendwie grell, und Bill und ich mussten blinzeln, als wir zusahen, wie das Flugzeug über uns seine Kreise beschrieb.
»Sind sie das?«, fragte ich, als ein Fleck neben dem Flugzeug sichtbar wurde. Fünfzehn Sekunden später folgte ein weiterer. Während die zwei Flecken größer wurden, kam es mir vor, als würde ich einer Schwangerschaft im Schnelldurchlauf zusehen. Innerhalb von Sekunden hatten sich die Punkte in zappelnde Menschen verwandelt. Eine knappe Minute später öffneten sich zwei Fallschirme wie Blüten, die sich in klaren Farben vom weißlich-trüben Himmel abhoben. Chris’ Gliedmaßen nahmen sich neben Jessicas kompaktem Körper geradezu lächerlich schlaksig aus.
»Wie Peter Pan und Tinkerbell«, stellte ich fest, als sie langsam herabgeschwebt kamen. Schon aus zehn Metern Entfernung entdeckte ich einen Ausdruck von glücklicher Fassungslosigkeit auf ihren Gesichtern.
»Mann, ihr seid echt extrem drauf!«, rief ihnen Bill entgegen, als sie landeten. »Ihr werdet ›extrem‹ nie wieder mit einem ›e‹ schreiben, sondern mit drei ›x‹ am Anfang.«
»Meine ersten Worte, als ich in der Luft war, waren: ›Ach, du Scheiße!‹«, grinste Jessica. »Ich hab die ganze Zeit geflucht und mich den Rest der Zeit bei Timothy entschuldigt, dass ich so viel fluche.«
Chris blickte um einiges wilder drein, als ich es von jemandem erwartet hatte, der das schon einmal gemacht hatte. »Es hat eigentlich was sehr Beruhigendes, wenn ein anderer Mensch so an einem festgemacht ist«, sagte er. »Aber dann verrät einen diese Person prompt, indem sie sich aus dem Flugzeug wirft, während du immer noch an ihr festgeschnallt bist.«
»War es anders als dein erstes Mal?«, wollte ich wissen.
»Dieser Skydive war …« Er suchte nach einem ungefährlichen Adjektiv. »… extremer als mein erster. Als ich kreischend auf die Erde zuflog, hat mein Tandempartner garantiert gedacht: ›Hey, ich dachte, der andere Typ springt mit dem Mädchen.‹«
Ich sprang mit Jessicas Partner Timothy, während Bill an einen Ausbilder namens Sebastian geriet. Der Mann sah aus, als hätte man den Marlboro-Mann mit dem muskelbepackten Typen aus der Old-Spice-Werbung gekreuzt und den Sohn in Großbritannien aufgezogen. Er schlug Bill so fest auf die schmale Schulter, dass dieser einen Schritt vorwärtstaumelte.
»Du kriegst heute garantiert noch einen Faustschlag ab«, flüsterte ich Bill zu.
»Es gibt einen Trick beim Fliegen«, verkündete Sebastian mit seinem starken britischen Akzent. »Man muss lernen, wie man sich auf den Boden wirft – und danebentrifft.« Er grinste boshaft.
Sebastian war knapp zwei Meter groß, sah umwerfend gut aus und hatte schon 12 000 Sprünge auf dem Buckel – doch obwohl Timothy erst 3000 vorzuweisen hatte, war ich froh, dass er mein Partner war. Während wir zu viert aufs Flugzeug zugingen, schnappte ich auf, wie Sebastian zu Bill sagte: »Ich hätte keine Angst vorm Sterben, wenn mein Fallschirm nicht aufgehen sollte – ich hätte Angst vorm Weiterleben, Mann. Auf dem Boden liegen und meine Eingeweide begucken und wissen, dass ich den Rest meines Lebens im Rollstuhl verbringe und mit den anderen über die Augenbraue kommuniziere, die ich noch bewegen kann …«
Als wir das Flugzeug erreichten, deutete Timothy auf ein rechteckiges Stück Metall direkt über dem Fahrgestell. Es war ein paar Zentimeter breit und ragte einen guten halben Meter nach vorne. »Seht ihr diese
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