Wer nie die Wahrheit sagt
hatte sie aufgegeben, hatte Vernunft angenommen, hatte ihren Hintern in das Taxi verpflanzt, das er für sie gerufen hatte. Bloß war sie nicht nach Washington zurückgeflogen, sondern hatte einfach dasselbe Flugzeug nach San Francisco genommen wie er, hatte sich im hinteren Teil vor ihm versteckt gehalten, dann einen früheren Anschlussflug von San Francisco zum Arcata-Eureka-Airport geschafft. Als er am Gepäckband stand, war sie einfach zu ihm hinmarschiert und hatte fröhlich verkündet: »Hätte nie gedacht, dass ich, zwei Wochen nachdem ich mit knapper Not hier rausgekommen bin, schon wieder in Hemlock Bay landen würde.«
Und jetzt saßen sie Seite an Seite in einem Mietwagen, und Simon war noch immer sauer.
»Du hättest mich nicht so hintergehen dürfen, Lily. Das hier könnte gefährlich werden. Wir sind jetzt wieder in deren Revier, und ich …«
»Wir hängen zusammen da drin, Russo, vergiss das nicht«, sagte sie. Sie musterte ihn mit einem durchbohrenden Blick und wandte sich kurz nach hinten, um aus dem Rückfenster die drei Autos zu studieren, die ihnen folgten. »Du tust ja, als hätte ich dir dein Ego abgeschnitten. Das ist nicht deine Show, Russo. Es sind meine Bilder. Halt dich ein bisschen zurück.«
»Ich habe deinem Bruder versprochen, dass ich auf dich aufpasse.«
»Na gut, dann halt dein Versprechen. Also, wohin fahren wir? Zu Abe Turkle, denke ich mir. Du sagtest, du könntest vielleicht was aus ihm rauskriegen, nicht über den Sammler, für den er arbeitet, sondern über die Frasiers. Dass er hier ist, beweist doch, dass er mit ihnen zu tun hat, oder?«
»Das ist richtig.«
»Du sagtest auch, Abraham Turkle wohnt in einem Strandhaus, an der Küste, gleich oberhalb von Hemlock Bay. Wissen wir, wem es gehört? Sag bloß nicht, meinem künftigen Exmann.«
Simon gab auf. Er sah sie an, während er erwiderte: »Nein, nicht Tennyson Frasier. Fast, aber nein, das Häuschen gehört Daddy Frasier.«
»Wieso hast du mir das nicht schon früher gesagt? Das beweist es doch, oder? Das reicht doch jetzt?«
»Nein, noch nicht ganz. Geduld. Es wird sich schon alles zusammenfügen. Der Highway 211 hier ist ja wirklich eine biestige Strecke. Kommen wir auch an der Stelle vorbei, wo deine Bremsen versagt haben und du gegen diesen Sequoia gerast bist?«
»Ja, gleich da vorn.« Aber Lily schaute in eine andere Richtung, als sie an dem Baum vorbeifuhren. Die Ereignisse jener Nacht verblassten zwar allmählich, auch deren Schrecken, aber es ging ihr noch immer zu sehr an die Nieren.
Simon meinte: »Abraham Turkle hat übrigens kein Bankkonto, kein feststellbares Einkommen. Also müssen ihn die Frasiers wohl bar bezahlen.«
»Ich kapiere immer noch nicht, wieso der ganze Aufwand«, meinte Lily ratlos.
»Sobald wir sicher festgestellt haben, dass Herr Olaf Jorgenson aus Schweden jetzt drei – nein, sagen wir alle vier, das vereinfacht die Sache – Sarah-Elliotts in seinem Besitz hat, können wir vielleicht auch rausfinden, wie viel er für sie bezahlt hat. Ich schätze, so um die zwei bis drei Mille pro Bild, vielleicht auch mehr. Kommt drauf an, wie besessen er ist. Was ich so gehört habe, geht er über Leichen, wenn er ein bestimmtes Bild haben will.«
»Drei Millionen? Das ist eine Menge Geld. Aber der ganze Aufwand …«
»Ich kann dir Geschichten über Sammler erzählen, die dir die Haare zu Berge stehen lassen. Da gab es zum Beispiel einen Deutschen, der sammelte leidenschaftlich seltene Briefmarken. Er fand raus, dass seine Mutter eine hatte, die er schon seit Jahren haben wollte, aber sie wollte sie nicht hergeben. Da hat er ihr ein Säckchen Münzen über den Schädel geschlagen, sie umgebracht. Hast du jetzt eine ungefähre Vorstellung davon, wie weit die Besessenheit einiger Sammler geht?«
Lily konnte ihn nur anstarren. »Kaum zu fassen. Dieser Olaf Jorgenson – du hast mir erzählt, er ist sehr alt und obendrein fast blind.«
»Erstaunlich, dass manche nicht mal dann aufhören können, wenn eine solche ›Kleinigkeit‹ wie eine Blindheit dazwischenkommt. Wahrscheinlich hört er erst auf, wenn er tot umfällt.«
»Glaubst du, sein Sohn Ian hat die echte Nachtwache auf seiner Jacht?«
»Würde mich nicht überraschen.«
»Und wirst du’s den Leuten im Rijksmuseum sagen?«
»Ja, aber glaub mir, die werden das nicht hören wollen. Sie werden das Bild heimlich von ein paar Experten untersuchen lassen. Wenn die sich einig sind, dass es eine Fälschung ist, dann werden sie
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