Wer ohne Liebe ist: Kriminalroman (German Edition)
presste, tauchte ein Bild vor ihr auf: Gesine Lorenz, voller Schmerz vor den Klassenfotos. Ein Bild an der Wand mit einer schwarzen Schärpe – Wir sind so traurig.
Heike meldete sich zaghaft. »Helene?«, fragte sie. Kein Klassenlehrer, dachte Emma. Er war nicht auf den Fotos. Wen hatte die Lehrerin betrauert?
»Heike, hatte Marlon ein Verhältnis mit seiner Lehrerin?«
Die Frau am anderen Ende der Leitung schwieg. Dann sagte sie leise: »Ich hab es befürchtet. Aber er hat alles abgestritten. Und sie war doch die Freundin von Lukas. Oder?«
Genau das, dachte Emma. Das war das Problem. Laut meinte sie: »Du hast gesagt, Marlon hat das Crystal nicht angerührt. Bist du dir sicher?«
Wieder brauchte Heike eine Weile, bis sie antwortete. »Er hat nicht mal geraucht.«
Emma hielt sich am Tisch fest. Es war jetzt ganz still, Helene und Ida sahen erschrocken auf Emma. Sie starrte ihre Mutter an, als könne sie in ihrem Gesicht lesen, was sie jetzt tun sollte. Nach einem langen Augenblick sagte sie leise und bestimmt ins Telefon: »Heike, kannst du Gesine Lorenz irgendwo sehen?«
»Warte mal.« Heike schien das Handy herunterzunehmen und sich umzusehen. Emma lauschte gespannt.
Ida trommelte nervös mit ihren Fingern auf die Tischdecke, bis Helene die Hand ihrer Jüngsten nahm und sie festhielt.
»Ja, sie steht hier hinten. Bei den Jungs von der Liga. Komisch, dass die gar nicht bei ihrer Schule …«
»Heike, hör mir jetzt gut zu.« Emmas Stimme klang entschlossen. »Ich will, dass du August nimmst und weggehst. Geh runter vom Friedhof. Macht einen Bogen um Gesine Lorenz und geht. Jetzt!«
»Aber …« Emma hörte nicht mehr, was Heike sagte, sie hatte schon die Verbindung gekappt, das Handy ihrer Mutter auf den Tisch gelegt und ihr eigenes gegriffen. Helene fragte leise: »Emma, was ist denn?« Emma hob ihre linke Hand, um ihre Mutter zu bremsen. Mit der rechten tippte sie bereits auf Blumes Nummer. Bitte, geh ran, bat sie stumm. Dann hörte sie seine Stimme, die Mailbox war angesprungen. Emma fluchte, schnappte sich ihre Jacke und die Tasche und wollte rausrennen.
»Emma?«
Helene und Ida sahen sie an, Ida war aufgesprungen. Emma war bereits an der Tür. »Bleibt einfach hier, bleibt bei Khoy. Ich komme …« Jetzt war die Ansage zu Ende, Emma stieß die Tür des Restaurants auf und rief im Laufen ins Telefon:
»Räum den Friedhof, Blume, du musst die Lehrerin finden, sie ist da, du musst sie festnehmen, pass auf, Blume, ich bin mir sicher, sie hat etwas vor, ich bin … gleich da.« Emma ging die Puste aus, sie steckte das Handy in die Hosentasche und rannte die Straße hoch. Die Schönhauser entlang, an der Volksbühne vorbei. Die Autos standen im Stau, sie überlegte einen Moment, ob sie umkehren und ihr Rad holen sollte, aber ihre Beine liefen einfach weiter. Der Dorotheenstädtische Friedhof war nicht weit, sie musste nur die Torstraße entlanglaufen. Als sie endlich die Chausseestraße erreichte, brannten ihre Lungen. Ihr war so schwindelig, dass sie taumelte.
Wie immer an einem Samstagvormittag war es hier voll, Touristen, junge Mädchen auf Shopping-Tour und Mitte- Bewohner auf dem Weg zum späten Frühstück. Vor dem Eingang des Friedhofes war ein solches Gedränge, dass es die Umstehenden auf die Straße schob und die Autofahrer wütend hupten. Junge Männer in gebügelten Hosen standen an beiden Seiten des steinernen Tores und trugen schwarzweiß-rote Fahnen. Viele hatten sich eine schwarze Binde um den Ärmel gelegt. Polizeibeamte waren dazu übergegangen, den Zugang abzusperren, und herrschten Passanten an, die neugierig ihre Hälse reckten, sie sollten weitergehen. Weiter hinten auf dem Friedhof spielte eine Trompete ein Trauerlied, es ging fast unter im Tumult. Emma blieb auf der gegenüberliegenden Seite und überquerte erst am Brecht-Haus die Straße. Sie lief durch die Gedenkstätte auf den Hof des Hauses, dort, wo das Kellerrestaurant ein paar Tische stehen hatte. Sie stieg auf eine Bank, von dort auf die Linde und dann mit einem wackeligen Schritt auf die Mauer, die das Haus vom Friedhof trennte. Einen Moment blieb sie stehen, laut keuchend. Der Schweiß lief ihr in die Augen, und sie blinzelte. Auf dem Weg unterhalb der Mauer schoben sich Trauergäste und Neugierige in den hinteren Teil des Friedhofs, dort, wo neu bestattet wurde. Emma sah eine Menge Menschen in dunklen Mänteln, Mützen und Regenschirmen, aber niemanden, den sie kannte. Der Friedhof war von allen Seiten mindestens
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