Wer ohne Liebe ist: Kriminalroman (German Edition)
fassungslos, wie ihr Kiez Schauplatz dieser Auseinandersetzung wird. Meine Kollegin Emma hat mit den Nachbarn gesprochen, Emma, was haben sie dir erzählt?«
Bente hielt ihr das Mikro hin, und Emma beugte sich darüber.
»Sie sind geschockt und haben Angst vor der Gewalt, die sich hier aufbraut. Die meisten haben sich in ihren Wohnungen verschanzt und stehen vermutlich hinter den Gardinen. Eine Frau aus dem Nachbarhaus beschwerte sich, dass die Anhänger der Rechten Liga in ihren Vorgarten gepinkelt hätten. Aber wenn ich jetzt hochschaue, dann …« Emma sah zu dem Nachbarhaus hinüber und erschrak. Sie sah August. Er hielt noch immer die Broschüren in der Hand und zupfte unsicher an seiner Kleidung herum. Ein Fotograf kniete vor ihm und fotografierte im Stakkato. Emma wurde wütend. Sie zwang sich, den Blick wieder auf das Mikro zu richten.
»… dann sehe ich, dass keiner der Nachbarn mehr auf der Straße steht.«
Von der Clayallee her hörten sie Polizeisirenen, die sich rasch näherten. Bente zog das Mikro wieder dicht vor ihre Lippen.
»Wie du vermutlich auch hören kannst, Marion, ist weitere Polizei im Anmarsch. Wir hoffen, dass sie die Gegner auseinandertreibt, bevor hier eine Straßenschlacht ausbricht. Noch stehen sie sich nur brüllend gegenüber, noch beschränkt sich der Angriff auf kleinere Rempeleien. Aber jeden Moment kann das eskalieren.«
Die Moderatorin übernahm jetzt den Part der Hintergrundberichterstattung. Sie fasste kurz ihre Meldungen der letzten Tage zusammen, den Mord, die Nachricht der Zugehörigkeit des Toten zu der rechten Partei, die Reaktionen an der Schule und in der Nachbarschaft. Emma hörte kaum zu. Sie beobachtete August. Der Fotograf vor ihm schien ihn zu ermuntern, den rechten Arm zum Hitlergruß zu heben. Einer der Kameraden von Rocco Schmitz lief über die Straße und baute sich neben August auf. Er legte den Arm um die Schultern des Jungen und lachte bereitwillig in die Kamera. August drehte den Kopf suchend nach hinten, sicher hielt er Ausschau nach seiner Schwester. Emma wandte sich Bente zu und signalisierte ihr, dass sie über die Straße zu dem Jungen gehen wollte. Bente schüttelte den Kopf und hielt sie am Ärmel fest.
»… wer die Gegner der Rechten sind und wie sie so schnell von der Aktion erfahren haben?«
Bente sprach ins Mikrofon:
»Die Linke ist ebenfalls gut vernetzt. Da braucht es nur ein paar Meldungen auf Facebook, und es macht sich eine Abwehrtruppe bereit.«
Wieder sagte die Frau im Funkhaus etwas darauf. Emma löste sich von Bente und trat rasch hinter dem Ü-Wagen hervor. Bente stampfte mit dem Fuß auf, konnte mitten in der Übertragung aber nichts sagen. Emma sah sie bittend an, wies mit der Hand zu August und schlüpfte an den umherstehenden Leuten vorbei zur anderen Straßenseite. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass ein Trupp Polizisten hinter den Rechten in die Straße lief. Sie waren in Kampfmontur und trugen Schlagstöcke in den Händen. Weiter hinten stieg Blattner erstaunlich wendig in den Wagen der Fahrschule, der in eine Seitenstraße abbog. Eine ältere Frau mit einem Transparent wurde gegen Emma geschubst. Die Frau klammerte sich an ihr fest. Jemand hatte Bengali-Fackeln gezündet und in die Menge geworfen. Emma spürte die Hitze, ein Mann schrie. Die Leute verschwanden hinter den Rauchschwaden, Emma löste sich von der Frau und drängte sich weiter zu August durch. Der Fotograf stand immer noch bei dem Jungen. Jetzt verfolgte er mit seiner Kamera die Polizisten, die sich zwischen die Gegner stellten und Erste aus dem Tumult zogen. Emma trat neben den Schlaks, schob ihn unsanft zur Seite und zerrte die rote Binde vom Arm des Jungen. August ließ es geschehen. Wieder warf er einen unruhigen Blick um sich.
»He, was soll das?«
Der Schlaks lallte und konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Er war zwei Köpfe größer als Emma, wirkte in dem Zustand aber wenig bedrohlich. Emma ersparte sich die Antwort und wandte sich gleich an den Fotografen, der ihr jetzt den Rücken zukehrte.
»Lassen Sie den Jungen aus der Geschichte raus, Kollege. Das ist doch noch ein Kind!«
Der Fotograf beachtete sie nicht. Die Polizei war mittlerweile dabei, weitere Demonstranten abzuführen. Die Gruppen pfiffen zum Rückzug, ein paar fingen an zu laufen, während sie sich gegenseitig noch Verwünschungen hinterherriefen. Emma beugte sich zu August und rief laut:
»Hast du deine Schwester gesehen?«
Er nickte und wies mit der Hand nach vorn.
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