Wer sagt, dass Kinder gluecklich machen
zwei Stunden später klein und blass auf dem Bett der Kinderabteilung unseres Kreiskrankenhauses saß. Ihr Blutzuckerwert lag bei 860, 80 bis 120 ist normal, bei 1000 stirbt man, es war wirklich dramatisch.
Von diesem Anruf an änderte sich unser Leben komplett, nichts blieb, wie es war, Gesches Krankheit dominierte – und sie dominiert alles. ›Ihre Tochter wird erst entlassen, wenn Sie beide alles über diese Krankheit wissen‹, sagten die Ärzte, aber Gesche wollte meine Hilfe nicht. ›Ich will mich selber spritzen‹, sagte sie ganz ruhig. Sie war viel stärker als ich, das blieb sie auch und hat es mir damit so leicht wie möglich gemacht. Denn leicht war es nicht, woran sich mein kleiner Spatz gewöhnen musste.
Sieben- bis achtmal pro Tag musste sie sich spritzen, vorher in die Fingerkuppen stechen. In den ersten Jahren durfte sie
so gut wie keine Kohlehydrate und Zucker essen, also all das, was ihr schmeckte: kein Brot, keine Pasta, kein Kuchen. Das hat sich zum Glück geändert, das heutige Insulin erlaubt alles – in Maßen natürlich. Trotzdem mussten wir beide uns an ein superdiszipliniertes Leben gewöhnen. Vor der Diabetes-Erkrankung haben wir gern ein bisschen herumgeschlampt. Am Wochenende bis mittags geschlafen, dann im Bett gefrühstückt, auch regelmäßige Mahlzeiten kannten wir nicht, wir waren ja nur zu zweit. Vorbei. Anfangs musste Gesche spätestens zwanzig Minuten nach dem Spritzen etwas essen, sonst wäre sie ins Koma gefallen. Beim ersten Anzeichen von Unterzuckerung – kalter Schweiß, Gereiztheit – muss Gesche sofort ›schnellen‹ Zucker zu sich nehmen, am besten ist eine Cola.
Einen Port wollte meine Tochter nie, weil man den von außen sieht, sie hat überhaupt ein sehr selbstbewusstes Verhältnis zu ihrer Krankheit. Jede Emotion, ob positiv oder negativ, jede Krankheit bringt Gesches Insulinhaushalt durcheinander, zum Beispiel ein Orgasmus, was ich ganz besonders traurig finde, weil ich selbst in ihrem Alter meine Sexualität so genossen habe. Es ist kein Thema, über das ich mit meiner Tochter rede, aber es ist mein geheimer Kummer.
Es war sehr schwierig, meine Tochter durch die Pubertät zu begleiten, weil es ja eigentlich eine Zeit des Loslassens, des Erwachsenwerdens ist. Aber wie lässt man ein Kind los, das mit sechzehn Party machen und über die Stränge schlagen will, wenn man weiß, welche potenziellen Folgeschäden – Nierenversagen, Erblindung – das haben kann? Würde Gesche jetzt schwanger werden, müsste sie abtreiben, weil ihr Kind vermutlich behindert sein und sie die Schwangerschaft nicht überleben würde. Wenn sie sich in der Damentoilette eines Restaurants eine Spritze setzt, halten die Leute sie für drogensüchtig. Ihre Fingerkuppen sind total verhornt, ihr Körper wegen der Spritzerei übersät mit blauen Flecken. Sie hat einen Schwerbehindertenausweis, aber sie benutzt ihn nicht. Sie will nicht anders sein als ihre Freunde.
Ich bin sehr stolz auf meine Tochter, obwohl ich ständig in Sorge bin. Meine Gefühle für sie sind so tief, dass sie manchmal fast nicht auszuhalten sind. Die Frage ›Warum ausgerechnet sie?‹ stelle ich mir längst nicht mehr, weil es darauf keine Antwort gibt. Aber dafür gibt es eine Neunzehnjährige, die auf ihrer Abiturfeier zur Miss Sunshine gewählt wurde. Das soll ihr erst mal jemand nachmachen.«
Der Moment, als Frau Bersedorf ihren Sohn Ulrich nach 38 Jahren zum ersten Mal wiedersah, seit sie ihn damals im Wickelraum vom Ostbahnhof vergessen hatte
»Hilfe, die Welt meiner Kinder ist mir total fremd!« – Wenn unsere Kinder uns entwachsen
Es ist ein Naturgesetz, aber eines, mit dem wir nicht gerechnet haben. Wenn Kinder groß sind, entwachsen sie uns. Brauchen uns weniger, als wir sie brauchen. Rufen uns nicht dreimal am Tag an, erzählen uns nicht mehr alles. Da müssen wir einfach durch, was uns jedoch sehr schwerfällt. War es nicht erst gestern, als wir »Wer kommt in meine AAARME!« riefen und sie kreischend auf uns zuliefen? Als ihre kleine Patschhand sich wie selbstverständlich in unsere schmiegte, wenn wir über die Straße gingen?
Wunderbare vergangene Welt, die erste Risse bekommt, wenn unsere Kinder in der Pubertät sind und in einem Maß auf Eigenleben und Selbstständigkeit pochen, das uns verschreckt und oft überfordert. Wir warten vor dem Fernseher mit Schnittchen, sie surfen im Internet, chatten, twittern, sind in einer Welt, in der wir nicht länger erwünscht sind. Und je inniger
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