Wer schlafende Hunde weckt
sich zufrieden war, wovon man in der letzten Zeit wenige sah. Er sah wie Anfang sechzig aus, ungefähr Jims Alter, also überraschte es sie nicht weiter (bedrückte sie aber ein wenig), dass er und Jim alte Freunde waren.
»Jasmine Sharp ?«, wiederholte er, als sie sich vorstellte.
»Ja. Jim war mein Onkel. Na ja, ein Cousin meiner Mutter.«
»War?« , fragte er besorgt.
»Ich meine bloß, meine Mutter lebt nicht mehr«, erklärte Jasmine, um die Situation zu retten.
»Ach ja, das hat Jim mal erwähnt. Mein Beileid.«
»Danke.«
»So gegen Neujahr, richtig?«
Jasmine nickte. Er lag um ein paar Monate daneben, aber sie fürchtete, dass ihre Stimme versagen würde, wenn sie jetzt antwortete.
»Ja, als ich Jim das letzte Mal gesehen habe, war das noch nicht lange her. So ist das, man will sich endlich mal wieder treffen, aber die Arbeit und alles … und verdammt noch mal, Sie wissen ja, wie Jim mit seiner Arbeit ist.«
Jasmine lächelte wissend, und irgendetwas in ihr wagte immer noch zu hoffen, dass sie alles falsch verstanden hatte und Jim bald wiedersehen würde.
McGranahan führte sie hinauf zur Geschäftskundenabteilung im dritten Stock. Das Großraumbüro reichte von der westlichen zur östlichen Außenwand, und an einer Seite befand sich eine Reihe einzelner Räume hinter Aluminium und Glas. McGranahan hatte in einem davon sein Büro, doch er ging mit ihnen daran vorbei zu einem doppelt so breiten Raum, vier Türen weiter. Dort war an einer Wand eine weiße Leinwand befestigt, und ihr gegenüber hing ein Beamer von der Decke. Die Glaswand zum Großraumbüro ließ sich mit Jalousien abdunkeln. An der gegenüberliegenden fensterlosen Wand stand ein zweiteiliger Schrank, der Jasmine an die Posterständer in Souvenirläden erinnerte. Oben waren Dutzende große Rahmen beweglich aufgehängt, und unten befanden sich mehrere Reihen länglicher Sortierfächer, in denen jeweils eine Dokumentenrolle lag. Außerdem befanden sich in dem Raum ein Leuchttisch, ein Kopierer und zwei ausladende Schreibtische. Auf einem davon lagen acht Papprollen.
»Das ist der Kartenraum«, erklärte McGranahan. »Hat heutzutage fast nur noch historischen Wert, wo wir alles auf Computern haben, aber wie ich uns kenne, dauert es noch zehn Jahre, bis wir eine neue Verwendung für ihn finden.«
Er nickte auf den breiten Schrank zu.
»Das ganze Zeug spenden wir wahrscheinlich dem People’s Palace oder irgendeinem Museum.«
»Was ist das alles?«, fragte Jasmine. In dem vordersten der Rahmen hing eine Art Karte.
»Straßenkarten von Glasgow. Oben sind die einzelnen Bereiche des Versorgungsnetzes abgebildet, und in den Fächern darunter sind in größerem Maßstab die Gasleitungen verzeichnet. Von den meisten gibt’s mehrere Versionen, diegut fünfzig Jahre zurückgehen und zeigen, wie sich die Straßenführungen geändert haben.«
Ingrams ging an den Tisch mit den Papprollen.
»Sind das die Bilder?«, fragte er.
»Genau. Ich hab unsere arme Sekretärin Josephine runter in die tiefsten Keller gejagt, um die zu besorgen. Ich konnte kaum glauben, wie lange wir die schon machen lassen. Wenn Sie mich gefragt hätten, hätte ich gesagt zehn Jahre. In Wirklichkeit sind’s über dreißig, aber Jim wollte nur die ersten beiden.«
»Was ist denn da genau zu sehen?«, fragte Jasmine.
McGranahan stellte sich neben Ingrams, nahm den roten Deckel von einer Rolle und zog ein Hochglanzpapier heraus. Er legte es flach aus und schob die Rollklammern vom Rand des Tisches darüber.
Das Blatt war knapp einen halben Meter hoch und eins zwanzig breit, und darauf waren vier dunkle horizontale Streifen zu sehen, die fast über die ganze Breite verliefen. Als Jasmine näher herantrat, sah sie, dass es sich um Schwarz-Weiß-Luftaufnahmen handelte, aber eins war seltsam. Sie waren so dunkel, dass sie fast wie Negative aussahen.
»Das sind Infrarot-Luftbilder von Glasgow, aufgenommen in überlappenden Ost-West-Streifen. Die lassen wir alle fünf Jahre machen. Damit können wir Häuser ausfindig machen, die viel Wärme nach außen abgeben, was auf den Fotos weiß aussieht. Wenn die Eigentümer Kunden bei uns sind, geben wir ihnen Tipps, wie sie etwas dagegen tun und ihren Gasverbrauch senken können.«
»Das hört sich so ein bisschen nach Schweinen an, die ihren Schlachter selber wählen«, sagte Ingrams.
»Klar, wenn man die Sache nur rein kapitalistisch-raffgierig sieht.«
»Der Brauch stammt wohl noch aus der Zeit vor der
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