Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
schnarrten, läuteten, schrien, dröhnten, jauchzten, weinten, je nachdem, wer und wie er sich der Plastik näherte, sich vor ihr bewegte. Das war nicht neu, neu waren die an Filigran, an Federn, Sonnenstrahlen, japanische Gräser, an indischen Tüll, Kaschmirseide, an Flamingos und Kolibris, an alle Zartheiten der Natur und der menschlichen Kunstfertigkeit erinnernden Gebilde, die unaufhörlich mit ihren Klängen auch ihre Formen und Farben veränderten und Timothy sofort an Klee und Kandinsky denken ließen. Und an Karpolenkow natürlich. Und an Musik. Timothy mühte sich, ein Motiv an die Oberfläche seines Bewußtseins zu zwingen, das irgendwo in seinem Gehirn angeklungen war, etwas Klassisches, ein Menuett? Da verlor die Plastik ihr zartes, porzellanglockenähnliches Klingen und schrie. Sie dröhnte, ächzte und schrie. McPerson, dachte Timothy und drehte sich um. Es war Deborrah Johnson.
Sie hatte das Zeichen ihrer Macht angelegt, natürlich nicht das amtliche Blech, sondern ihren privaten, mit Saphiren besetzten Platinstern, der sie aber nichtdestoweniger als Detektivchef von Chicago auswies. Als ob sie es nötig hätte! Als ob nicht jeder diese fetten Hängebäckchen, die kleine, knubblige Nase und die zu hohe Stirn kannte, diesen massigen Körper und die trippelnden Schritte, die ihr den Spitznamen Bachstelze eingebracht hatten. Wenn auf jemand das Wort publicitygeil zutraf, dann auf sie; kaum ein Tag verging, an dem ihr Bild nicht in den Nachrichten oder einer anderen Sendung erschien.
»Hallo, Tiny«, sagte sie in einem Ton, der Timothy einen Schauer über den Rücken jagte und der Plastik ein frostiges Klirren entlockte. »Scheußlich, nicht wahr?« Sie schüttelte den Kopf. »Daß so etwas als Kunst gilt! Das sind doch bestenfalls notdürftig aufgemutzte Psychoschocker. Kunst soll, so finde ich, wenn sie schon nicht unterhält, wenigstens angenehm sein.«
Arme Deborrah! dachte Timothy. Er stellte überrascht fest, daß er so etwas wie Mitleid mit der Bachstelze empfinden konnte. Ja, das war sicher der Preis für eine Karriere in den schmutzigen Gefilden dieser Staatsmacht, der Preis für ihre Härte, für all die Scheußlichkeiten, die man über die Praxis der Detektiv-Division erzählte und von denen mindestens das Doppelte stimmte, der Preis für die absurden und menschenverachtenden Gedanken, die hinter dieser hohen Stirn nisten mußten, daß sie niemals in ihrem Leben den unbeschreibbaren, unsagbar schönen Ansturm der Gefühle erleben würde, die Daniels Plastiken auslösten, wenn ihr Betrachter sie richtig zum Tönen bringen konnte.
Immerhin, sie brachte sie wenigstens zum Schreien. Wie viele schafften nicht einmal das, sondern konnten den Sonics nur ein armseliges Grunzen entlocken, wurden nie von den eigenartigen Melodien und sonderbaren Assoziationen beglückt, die zu erleben sie natürlich alle vorgaben, auch wenn sie nichts anderes empfanden als das Gefühl der eigenen Dummheit und Wertlosigkeit.
Das war letztlich auch der Grund gewesen, warum Daniels Plastiken wieder aus der Öffentlichkeit verschwanden, statt wenigstens in ihren gelungensten Exemplaren in die Museen einzuziehen und damit als wertbeständiger Teil der Kultur ausgewiesen zu sein. Aber die Sonics waren teuer, zu teuer für ein Museum, und die Leute, die sich eine leisten konnten, waren selbst in diesem von Heuchelei und Lüge zerfressenen Land nicht bereit, auf Dauer sich selbst und anderen für ihr gutes Geld noch etwas vormachen zu müssen.
»Ich hatte mich schon gewundert, daß ich Sie nicht sah, Debby«, sagte Timothy, »wo Sie doch sonst keine Premiere auslassen. Interessieren Sie sich eigentlich für die Kunst oder für die Besucher?«
»Für Kunst schon, wenn auch nicht für so was. Sie wissen wohl nicht, daß ich eine eigene Galerie besitze, Zwerg Allwissend?« Sie lachte dröhnend, die Plastik flatterte erschrocken auf und stieß einen spitzen Schrei aus. Deborrah zog Timothy am Ärmel aus der Reichweite der Sonic.
»Ich war neugierig, ob Daniel Shopenhower eine Auferstehung schaffen würde.« Sie schüttelte den Kopf. »Auch er nicht. Nicht mit solchen Scheußlichkeiten. Sie sollten mich mal besuchen kommen, Tiny. Ich besitze eine erstklassige Kollektion von Gemälden des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich liebe das gute alte zwanzigste Jahrhundert.« Sie kicherte. »Und ich nicht allein. Haben Sie schon gehört, Tiny...« Sie blickte sich um, als müsse sie Angst haben, daß jemand sie belauschen könne und sie,
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