Wer viel fragt
Kaffee ein und nahm
mir die Aufzeichnungen über Leander Crystal vor. Sie trugen den
Vermerk: ›Sn.-7/21/56‹. Der Abschnitt Geschichte war hier
viel kürzer, aber genauso unverständlich. Ich ging weiter zu den
Seiten mit den Behandlungsterminen.
Leer, wie bei Fleur.
Waren die Akten nur
Attrappen? War der Detektiv ein Einfaltspinsel?
Oder waren die Crystals so
gesund? Wenn man mehr riskiert hat, als einem zu verlieren lieb ist, dann
ist es niederschmetternd, festzustellen, daß man nur wenig gewonnen
hat. Der Wert einer Information steigert sich nicht dadurch, daß sie
schwer zu ergattern war.
Ich brauchte noch Kaffee.
Dann nahm ich mir die
aktuelle Akte von Eloise Crystal vor.
Datiert 17. 11.54, ungefähr
zwei Wochen nach ihrer Geburt, dem Tag nach ihrer Ankunft in Indianapolis.
Ich vermutete, daß Fishman junior von Anfang an ihr Arzt gewesen
war. Oder besser gesagt, von ihrem ersten Erscheinen in Indianapolis an.
Behandlungstermine in rauhen
Mengen. Über sechzehn Jahre hinweg. Einzelne Wörter, die mir
lesbar vorkamen. Aber selbst diese wohlgefüllten Blätter
stimmten mich trübe. Denn wenn ich nur genügend Zeit darauf
verwendete, mochte ich zwar das meiste davon herausbekommen; bevor ich
aber damit fertig war, würde ich keinerlei Anhaltspunkte haben, ob
überhaupt etwas Wichtiges darinstand. Es war die Ineffizienz der
bevorstehenden Arbeit, die mich bestürzte.
Und das nach einem
furchtbaren, ereignisreichen, aufregenden Tag mit spürbarem
Schlafdefizit. Vor allem das.
Ich wandte mich den alten
Unterlagen von Wilmer Fishman senior zu. Wieder begann ich mit Fleur.
Diesmal keine leeren Seiten, aber ich war schon zu angeschlagen, um noch
viel wahrnehmen zu können.
Die Akte begann
wahrscheinlich bei ihrer Geburt, mit dem 9. Januar 1930. Sehr dicht wurden
die Eintragungen von den späten dreißiger Jahren an.
Zumindest wußte ich
jetzt, wer die Praxis von Fishman bezahlt hatte: Estes Graham.
Leander hatte Fishman zum
ersten Mal 1947 aufgesucht. Ich vermutete, daß Estes ihm den Arzt
empfohlen hatte. Bis 1953 hatte er Fishman nur sporadisch konsultiert,
ungefähr zwei Mal pro Jahr. Der letzte Termin war am 5. Januar 1953
notiert.
Danach nichts mehr. Siebzehn
Jahre lang. Geld heilt manche Krankheit. Aber gleich so gründlich? Lächerlich.
Ich nahm mir Fleurs drei Brüder
vor. Windom, den ältesten, Sellman und dann Joshua. Alle drei hatten
ihren letzten Termin Anfang der Vierziger gehabt. Die drei Helden.
Gefallen.
›Verstorben‹
stand jeweils in der letzten Zeile auf ihrer Akte.
Über Irene Olian Graham
gab es nur wenig. Sie war 1937 gestorben. Meine erste Bekanntschaft mit
dem Tod eines Patienten aus der Sicht des behandelnden Arztes. Unter dem
letzten Behandlungstermin stand die kurze Notiz. ›Verstorben 19.2.
37. 156201.‹ Schon nach wenigen Minuten hatte ich begriffen, daß
es sich bei der letzten Zahl wahrscheinlich nicht um die Anzahl der
Patienten handelte, die unter Dr. Fishman semors Hand gestorben waren.
Vielleicht war es die Nummer des Totenscheines.
Der letzte eingetragene
Termin war vom gleichen Datum und enthielt eine Notiz, die sich am ehesten
als ›HB‹ entziffern ließ.
Ich kam zu dem Schluß,
daß es wahrscheinlich wirklich ›HB‹ heißen
sollte, für Hausbesuch.
Vielen Dank, lieber Watson.
Ich trank den nächsten Kaffee.
Ich blätterte Fleurs
Unterlagen noch einmal rückwärts durch.
In der älteren Akte
waren, so schien es, Hunderte von Hausbesuchen verzeichnet. Ich spürte,
daß mir bei Fleur irgendwie unbehaglich wurde. Wegen des
Zusammenspiels all der Dinge, die ich herausgefunden hatte oder nicht
herausgefunden hatte. Ich war mir immer unsicherer, ob ich jemals aus ihr
schlau werden würde, dafür aber um so sicherer, daß ich
ihr eines Tages begegnen würde. Ich wurde depressiv.
Estes Graham. Anscheinend zum
ersten Mal von Fishman senior behandelt 1901. Der Senior konnte damals
seine Praxis eigentlich gerade erst eröffnet haben. Und wer weiß,
womit Estes damals gerade anfing. Er war ziemlich selten in der Praxis
gewesen, manchmal jahrelang nicht, bis seine Besuche ab 1946 regelmäßig
und häufig wurden. Viele Notizen, Zeichen und Zahlen.
Ich konzentrierte mich
angestrengt, konnte aber in alledem kein vertrautes Wort erkennen. Meine
Mißachtung der Arztserien im Fernsehen rächte sich jetzt
bitter. Keine Frage, daß sich sein
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