Wer zuletzt lacht, küsst am besten: Roman (German Edition)
niemals gehalten. Aus irgendeinem Grund hatte das Wort »betagt« nie auf Clive Hollowell zugetroffen. Ihren Vater als betagt anzusehen gefiel ihr nicht.
Die mit der Pflege ihres Vaters betraute Krankenschwester beantwortete ihre Fragen und erkundigte sich bei ihr, ob Clive abgesehen von den Blutdruck senkenden Mitteln, die sie in seiner Reisetasche gefunden hatten, irgendwelche Medikamente einnahm.
Sadie hatte nicht einmal gewusst, dass er zu hohen Blutdruck hatte. »Nimmt Daddy außer für seinen Blutdruck noch irgendwelche Tabletten?«, fragte sie die Zwillinge.
Die schüttelten nur achselzuckend die Köpfe. Sadie wunderte es nicht, dass die Frauen, die Clive Hollowell schon über dreißig Jahre kannten, nichts von möglichen gesundheitlichen Problemen wussten. Über so etwas hätte ihr Vater nie im Leben gesprochen.
Die Schwester versicherte Sadie, dass sein Zustand stabil sei und er bequem läge, und versprach, sie anzurufen, wenn es irgendwelche Veränderungen gäbe. Nach dem Gespräch hinterließ Sadie seinem Hausarzt telefonisch eine Nachricht und buchte ein Ticket für den ersten Flug nach Laredo mit Zwischenlandung in Houston. Dann schickte sie die Parton-Schwestern mit dem Versprechen nach Hause, sie am nächsten Morgen noch vor ihrem Abflug um neun Uhr anzurufen.
Von Adrenalin aufgeputscht stieg sie mit vor Erschöpfung schweren Gliedern die Hintertreppe hinauf und lief an Generationen strenger Hollowell-Porträts vorbei zu ihrem Schlafzimmer am Ende des Flures. Als Kind hatte sie den Ausdruck in den finsteren Mienen für mürrisches Missfallen gehalten. Sie hatte stets das Gefühl gehabt, als wüssten ihre Ahnen Bescheid, wenn sie durchs Haus tobte, abends ihren Teller nicht leer aß oder ihre Kleider unters Bett schob, statt sie ordentlich wegzuräumen. Selbst noch als Teenager hatte sie das Missfallen gespürt, wenn sie mit ihren Freundinnen die Musik zu laut aufdrehte, wenn sie sich nach einer Party heimlich ins Haus schlich oder wenn sie mit einem Jungen rumgeknutscht hatte.
Obwohl sie jetzt erwachsen war und wusste, dass die verkniffenen Gesichter eher den damaligen Zeiten, fehlenden Zähnen und schlechter Mundhygiene geschuldet waren, spürte sie noch dasselbe Missfallen, weil sie sich von der Hochzeit ihrer Cousine nach Hause geschlichen hatte. Weil sie Texas verlassen hatte und fortgeblieben war. Weil sie nicht wusste, dass ihr betagter Vater unter zu hohem Blutdruck litt und welche Medikamente er nahm. Sie hatte schlimme Gewissensbisse, weil sie weggezogen und fortgeblieben war, doch die größten Schuldgefühle plagten sie, weil sie die 4000 Hektar große Ranch, die ihr eines Tages gehören würde, nicht liebte. Jedenfalls nicht so sehr, wie sie sollte. Nicht wie all die Hollowells vor ihr, die in der Flurgalerie so streng auf sie hinabblickten.
Sie trat in ihr Zimmer und schaltete das Licht an. Der Raum war noch genauso eingerichtet, wie sie ihn an dem Tag vor fünfzehn Jahren hinterlassen hatte, als sie ausgezogen war. Noch dasselbe museumsreife Eisenbett, das einst ihrer Großmutter gehört hatte. Dieselbe gelb-weiße Bettwäsche und dieselben antiken Eichenmöbel.
Sie zog den Reißverschluss an ihrem Kleid auf und warf es über einen Ohrensessel. Nur noch in Slip und BH lief sie über den Flur zum Bad. Sie machte Licht und drehte den Wasserhahn der freistehenden, mit Löwenfüßen verzierten Badewanne auf.
Als sie das Medizinschränkchen öffnete, um den Inhalt zu inspizieren, erhaschte sie einen kurzen Blick auf ihr Gesicht. Außer einer alten Packung Aspirin und einer Schachtel mit Heftpflastern befand sich nichts darin. Keine rezeptpflichtigen Medikamente.
Sie ließ ihre Unterwäsche auf den weißen Fliesenboden fallen und stieg in die Wanne. Sie zog den Vorhang um sich herum und stellte die Dusche an.
Als ihr das warme Wasser ins Gesicht prasselte, schloss sie die Augen. Der Abend hatte schon schrecklich begonnen und war zusehends grauenhafter geworden. Ihr Daddy lag in Laredo im Krankenhaus, ihre Haare waren steif wie ein Helm, und sie hatte einem Mann erlaubt, ihr ins Dekolleté und unter den Slip zu fassen. Von diesen drei Problemen konnte sie heute Abend nur das mit der Frisur lösen. An Vince wollte sie auf keinen Fall denken, was keiner allzu großen Anstrengung bedurfte, da sie sich vor Sorge um ihren Vater verzehrte.
Bestimmt geht es ihm gut, redete sie sich ein, während sie sich die Haare wusch. Sie redete sich ein, dass er wieder gesund würde, während sie sich
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