Werbevoodoo
war getrennt. Er stand am Pier und sah zu, wie die Geliebte auf dem Schiff immer kleiner wurde. Zuletzt verschwand die Musik.
Timo hatte keine Sorge, dass sie sich in die Arme eines anderen Mannes werfen, mit irgendjemandem durchbrennen würde – das war ausgeschlossen. Was Timo fürchtete, war, dass sie eines Tages einfach weg war. Abgeholt von den düsteren Ahnungen ihrer Zukunft.
Er holte sein Skizzenbuch aus der Tasche und betrachtete die Porträts, die er von ihr gezeichnet hatte.
Er hatte über manche der großformatigen Bilder Zeilen geschrieben, und im Comic-Stil Geschichten um sie herumgeflochten. ›Siehst du mich, Mama?‹, schrieb er über eines der seltenen Bilder, in denen sie glücklich aussah. Sie war so schön. Er liebte dieses blauschwarz glänzende Haar, das sie meist zu einem langen, dicken Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie war viel zu schüchtern, ihre spektakuläre Mähne offen zu tragen, obwohl sie wusste, wie sehr Timo diesen Anblick liebte. Auf dem Bild hatte sie die Haare offen, es sah aus, als würde sie mit dem Betrachter spielen. Liebevoll blickte sie einen an, man konnte meinen, das Bild wäre aus der Perspektive eines Kindes gemalt worden. Mit klopfendem Herzen betrachtete Timo das Porträt. Das ist es, was sie so bedrückt! Sie will Kinder haben. Und sie sieht, dass ich ein Idiot bin, der keine Familie ernähren kann. Trotz Studium, trotz drei Jahren Berufserfahrung. Scham und Wut krochen in seiner Kehle hoch und vermischte sich zu einem Würgereiz.
Während das Party-Grüppchen immer mehr in Stimmung kam, betete Timo den Stachus herbei, er wollte endlich raus hier. Danach schnell in die Trambahn, zwei Stationen bis zur Müllerstaße, und dann war er endlich da. Die 300 Meter bis zum Haus lief er, so schnell er konnte. Die Treppe hinauf nahm er zwei Stufen auf einmal, als er im fünften Stock angekommen war, und die Tür aufgeschlossen hatte, japste er, keuchend nach Luft ringend: »Selena, ich bin da.«
Selena war auch da. Sie lag in ihrem schönsten Kleid auf dem Linoleumboden in der Küche. Mit offenen Haaren und rot geschminkten Lippen. Ihre Armbanduhr war durch den Aufprall am Boden kaputtgegangen und zeigte 23.24 Uhr. Im Kühlschrank stand eine frische Maraschino-Torte. Selena war seit eineinhalb Stunden tot. Und die Überraschung, die sie Timo versprochen hatte, würde er niemals zu Gesicht bekommen.
Wondrak blickte auf den See hinaus. »Und warum ist Ihre Uhr stehen geblieben, Timo?«
»Ich hab’, nachdem der Olanger die Pappen ruiniert hat, vor Wut auf den Tisch geschlagen, und dabei ist sie wahrscheinlich kaputtgegangen. Und um 23.24 Uhr stehen geblieben. Ich bin ja erst durch die beiden Uhren darauf gekommen, dass beide Ereignisse in Zusammenhang stehen. Als der Olanger meine Arbeit zerstört hat, habe ich kurz gedacht, ich würde ohnmächtig vor Wut, so erschüttert war ich.«
Wondrak konnte sehen, wie Timo die Szene noch einmal durchlebte.
»Sie kennen das Gefühl, wenn man einen Geistesblitz hat, und plötzlich etwas durchblickt, was einem vorher verschlossen war?«, fragte er Wondrak. Der nickte.
»Es ist wie das Lösen eines Kreuzworträtsels«, fuhr Timo fort. »Oder wie das Hinlegen der letzten fünf Teile eines Puzzlespieles – ungeheuer befriedigend. Wenn du einen kreativen Einfall hast, packt dich das Gefühl, die Welt neu zu erfinden. Und wenn du dann weiter an der Idee arbeitest, wird dieses Gefühl immer dichter und reichhaltiger. Du beginnst, dir die Reaktionen der Kunden auszumalen, und erträumst den Erfolg und Glanz der eigenen Arbeit, noch bevor sie überhaupt erschienen ist. Das ist der Grund, warum ich kreativ arbeiten will. Es ist ein Rausch. Besonders, wenn man sich im Team gut versteht. An dem Abend hat mir Chantal geholfen. Wir hatten beide so einen Spaß und hundertprozentig das Gefühl, genau das Richtige zu tun. Im Nachhinein wissen wir ja nun, dass unser Gefühl richtig war und Olanger falschlag. Aber als der vollkommen kalt und ungerührt die Pappen einfach auf den Boden fallen lassen hat, da war auch ich am Boden zerstört. Selena hat meine Erschütterung mitgefühlt. In einer Intensität, die sie umgebracht hat. Sie war Synästhetikerin, bei ihr war alles miteinander verbunden. Mein Schmerz war ihr Schmerz. Sie wissen das, Ihre Katze hat es Ihnen verraten, stimmt’s?«
Wondrak gestattete sich nicht, zu nicken, er lächelte nur bitter. Im gleichen Moment verdüsterte sich Timos Miene.
»Olanger hat sie auf dem Gewissen.
Weitere Kostenlose Bücher