Werbevoodoo
Tisch. Hast du da nicht reingeschaut?«, fragte Dillinger.
»Was, du meinst diesen dicken Ordner, das sind ja 300 Seiten. Was steht denn da drin?«
»Na, alles«, entgegnete Dollinger keck.
»Spinnt ihr, wen interessiert denn alles?«
»Na, dich. Dich interessiert alles«, gab Dillinger zurück. Woran lag es denn, dass die Buam plötzlich so rebellisch wurden?
»Quatsch«, rief Wondrak. »Mich interessiert nicht alles. Sondern nur alles Wichtige. Also: 50 Seiten. Maximal 60. Ich bin mir sicher, dass ihr das hinkriegt, Buam. Morgen auf meinem Schreibtisch.« Und knallte die Tür zu.
Ich bin auch ein Arsch, dachte sich Wondrak. Mit den Buam kann man’s ja machen. Drehte sich um, öffnete die Tür noch einmal und sagte: »War nicht so gemeint. Habt ihr überhaupt Zeit dafür? Was macht ihr gerade?«
Dillinger druckste herum: »Na ja, da sind ein paar Schmierereien an der KZ-Gedenkstätte in Dachau, wir sind gerade den Sprayern auf der Spur.«
»Das hat Priorität«, entschied Wondrak. »Kümmert euch um die Sprayer, ich nehme mir den Wallberg vor. Und das nächste Mal bitte denkt dran.«
Und im Chor stimmten Dillinger und Dollinger ein: »Nicht alles, sondern nur alles Wichtige!«
»Wie viele Seiten?«
»50, maximal 60«, antwortete der Chor.
»Ihr seid spitze!«, ächzte Wondrak, bevor er die Tür schloss.
»Irgendwie ist der Wondrak nicht mehr der Alte«, meinte Dillinger.
»Ein Wahnsinn, was so ein Führungskräfteseminar aus einem Menschen macht …«, sinnierte Dollinger.
Nach 60 Seiten bereute Wondrak seine Entscheidung und nach 100 war er beinahe eingeschlafen. Er quälte sich noch bis zur Mitte durch, dann konnte er nicht mehr. Sein Extrakt passte auf zwei DIN A4-Seiten. Die einen mögen dünnen Filterkaffee, Wondrak war bekanntlich eher für Espresso.
Er ging hinunter in den Hof, wo ein paar Wein-Verrückte neben dem Klosterstüberl eine österreichische Vinothek betrieben und kaufte zwei Flaschen Sauvignon Blanc aus der Südsteiermark. Wondrak hatte den Verdacht, dass sie den Laden nur für ihn betrieben, vielleicht war das einer der Tricks von Stürmer, um ihn davor zu bewahren, den nächsten Karrieresprung Richtung München, Rosenheim oder Ingolstadt zu nehmen. Er nahm die Flaschen wieder mit hoch ins K1, wie sein Kommissariat kurz genannt wurde, und legte sie in der Küche in den Kühlschrank, damit sie bis um acht richtig kalt waren.
Fünf Minuten nach acht klingelte er. Einen Wimpernschlag zu spät schoss ihm durch den Kopf: Nicht klingeln, die Kinder schlafen.
Aber das machte offenbar nichts. Denn Marianne öffnete die Tür und strahlte ihn an. Von oben war kein Kindergeschrei zu hören. Mit »Guten Abend, Thomas. Pünktlichkeit ist die Tugend der Könige. Ich liebe tugendhafte Könige« begrüßte sie ihn.
»Und Schönheit ist das Privileg der Königinnen. Danke für die Einladung, Hoheit«, gab Wondrak würdevoll zurück und zog drei Sonnenblumen hervor, die er auf dem Nachhauseweg selbst gefällt hatte.
Das tief ausgeschnittene Sommerkleid, das Marianne trug, machte klar, dass der Ehemann heute wohl nicht mehr erwartet wurde. Und so stand bereits die Begrüßung unter der schönen Frage: Wann reißt welches Königskind als Erstes dem anderen die Kleider vom Leib? Wondrak hatte Charlotte gar nicht erst mitgebracht. Und Marianne schien sie auch nicht zu vermissen.
»Aperitif?«, fragte sie und zog den Prosecco-Spumante aus dem Kühlschrank. Wondrak war es recht, er stellte seine mitgebrachten Flaschen erst mal kalt.
»Eines musst du mir verraten, Thomas. Wie kommt ein Österreicher eigentlich zur bayerischen Kriminalpolizei?«
Wondrak liebte es nicht besonders, diese Geschichte zu erzählen, zu oft hatte er sie schon zum Besten gegeben. Aber er genoss es, dass ihn eine Frauenstimme zärtlich Thomas nannte, also tat er ihr den Gefallen. Wondrak hatte ursprünglich bei der Wiener Kriminalpolizei gearbeitet und war dann zu Interpol gewechselt, die von Wien aus die internationale Verbrechensbekämpfung koordinierte. Man pflegte einen regen Austausch mit dem bayerischen Polizeipräsidium, besuchte sich gegenseitig und veranstaltete Seminare, um die Ermittlungsarbeit – bei allen Souveränitätsbemühungen der zwei im Grunde befeindeten Stämme – auf einheitliche Standards zu bringen. Bei einem dieser Treffen hatte er Heike kennengelernt. Heike aus Fürstenfeldbruck. Die große Liebe war so riesig, dass Wondrak sich alles mit ihr vorstellen konnte. Sogar nach
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