Werke
lernen«, sagte Gerlint. »Aber ich bin nur die hochverehrte, geliebte Tante, und du bist der herzliebe Oheim.«
»Närrchen, mit welchem Dinge ist man denn die geliebte als auch mit dem Herzen?« sagte Dietwin. »Mache nun das Seidenpäckchen auf!«
Gerlint öffnete das Päckchen. Zwei sehr kleine Gegenstände kamen aus der Seide. Der eine war ein Stückchen schmales Seidenband, oder eigentlich waren es zwei Seidenbänder, die über einander befestigt waren: ein schwarzes und ein aschgraues. Auf dem schwarzen war ein winziges hinlaufendes Rosengeschlinge, auf dem grauen eines aus Vergißmeinnicht. Beides war Seidenstickerei. Ein Papierstreifen sagte: ›Der lieben Tante.‹
»Das habe ich noch nicht in dieser Kleinheit und Feinheit gesehen,« sagte Gerlint, »und diese Geduld von dem heftigen Mädchen.«
»Aber wozu denn dieses Streifchen Band?« fragte der Bruder.
»Es ist unter allen Gaben, die sie mir je geschickt hat, die zarteste,« sagte die Schwester, »es ist ein Schlüsselbändchen für den Schlüssel des Ebenholzkästchens, das in der Wand meines Zimmers ist, und in dem alle meine andern Schlüssel hängen. Du weißt, ich trage das Schlüsselchen, um es nicht zu verlegen, immer mittelst eines Bandes an meinem Kleide befestigt, und da hat sie zu ihrem Bande sinnvoll die graue und schwarze Farbe je nach der Farbe meiner Kleider gewählt. Ich will heute noch die graue Seide zu meinem grauen Kleide tragen.«
»Tue das, Schwester,« sagte Dietwin, »und zeige mir nun auch das andere Ding.«
Gerlint wickelte aus feinem Papiere ein Geldtäschchen heraus, auf dessen einer Seite unter Glas auf weißer Seide ein sehr kleiner Lorbeerkranz war, eben so zart in Gold gestickt wie die Blumen auf dem Bande in Seide. Ein Papierstreifchen enthielt die Worte: ›Dem lieben Oheime.‹
»Da muß man völlig betroffen sein,« sagte Gerlint, »sie hat keine Ahnung von dem gehabt, was ich dir zu deinem heutigen Geburtstage bestimmt hatte. Welches merkwürdige Zusammentreffen!«
»Gib das Sächelchen,« sagte Dietwin, »siehe, so niedlich, und die Lage der Blätter wie bei dir. Ist das nicht wieder ein Zeichen?«
»Möge es sein, und möge alles gut enden«, sagte Gerlint.
»Es wird, es wird,« versetzte Dietwin, »wir werden uns bei dem Mädchen schön bedanken, und nun lasse den Sausemann kommen, sonst wird er vollständig unwirsch.« Gerlint schellte mit der Glocke, ein Diener kam, und sie sagte: »Wir lassen den Herrn Baron in mein Wohnzimmer bitten.«
Der Diener ging, und gleich darauf kam Dietwin, der Neffe, in das Gemach. Einer seiner Leute, festlich gekleidet, trug ihm ein längliches Kästchen aus Palisanderholz auf dem Arme nach. Der Neffe winkte, der Mann stellte das Kästchen auf einen Tisch, und verließ das Zimmer.
Dann näherte sich der Neffe ehrerbietig der Tante, küßte ihre Hand, und faßte dann mit gleicher Ehrerbietung die Hand des Oheims. Hierauf trat er ein wenig zurück, und sprach: »Weil es schon der Brauch in dem Schlosse Biberau ist, daß zum Geburtstags-Glückwunsche der Herrin des Schlosses und zum Geburtstags-Glückwunsche ihres Bruders, der den gleichen Tag mit ihr in dem Schlosse feiert, niemand früher vorgelassen wird als an dem Tage selber, auch der leibliche Neffe nicht, so bin ich beim Anbruche des Tages von Weidenbach weggefahren, um der erste hier zu sein, und ich bin der erste gewesen, nur ein Brief meiner lieben Muhme Gerlint hat mir den Rang abgelaufen. Hochverehrte Tante, hochverehrter Oheim, alles Glück, allen Segen, alles Heil bringe dieser Tag, und es sollen ihm lauter solche Tage folgen. Er ist kein gewöhnlicher Geburtstag, heute ist er ein Abschnittsgeburtstag, der fünfzigste des geliebten Oheims. Mögen noch weit mehr als fünfzig kommen, und möge Tante und Oheim in traulicher Eintracht fortan beglückt sein, wie ihre Bilder traulich in dem Saale neben einander hängen. Mir ist von beiden unverdiente Güte zu Teil geworden, und wird mir noch zu Teil, ich sage den tausendfachen, aber verdienten Dank dafür. Ich werde alle Mühe anwenden, meine Fehler zu verringern, daß ich vor künftiger Güte nicht erröten darf.«
Nach diesen Worten küßte er wieder der Tante die Hand, und reichte dem Oheim seine Rechte.
Hierauf sagte Gerlint: »Ich danke dir für deinen Wunsch, Dietwin, ich weiß, daß du mir alles Gute zuwenden möchtest. Es ist aber schon einiges genug, und in ein ganzes Jahrhundert hinein zu leben, wie du in Aussicht stellst, dürfte für mich alte Frau
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