Werwelt 01 - Der Findling
Mißerfolg. Er steigerte sich in eine künstliche Erregtheit hinein und befahl ihr stumm, an sein Pult zu kommen und ihm ein Buch zu bringen, das er aus der »Bibliothek« haben wollte, einem schlichten Bücherregal vorn im Raum beim Klavier. Miss Wrigley, die an ihrem Pult saß und Hefte der siebten und achten Klasse korrigierte, blickte tatsächlich einmal auf und lächelte ihn flüchtig an, als sie seinen Blick auffing, doch sie machte keine Anstalten, das erwünschte Buch zu holen. Charles war tief enttäuscht über diesen Mißerfolg, zumal er geglaubt hatte, er hätte hier ein leichtes Mittel entdeckt, sich alles zu beschaffen, was er haben wollte.
Er wiederholte das Experiment am selben Abend mit Mrs. Stumway, und es ging noch übler aus. Er erreichte nämlich genau die umgekehrte Wirkung, reizte sie zu zornigen Worten darüber, daß er die Küchenabfälle nicht zur Müllgrube hinter dem Haus hinausgetragen hatte. Und als Charles es ein zweites Mal versuchte, mit seiner ganzen Willenskraft den Befehl zu denken, daß die alte Frau ihm aus der Küche einen Apfel holen sollte, blickte sie, gerade so, als hätte sie den Befehl tatsächlich empfangen, von einem Brief auf, den sie gerade las, und sagte: »Charles, du streichst mir dieses Wochenende das Klohäuschen draußen.«
Er zog sich zurück, um sich über seine Hausaufgaben zu setzen. Das, was er da mit Runt angestellt hatte, war eben doch nur reiner Zufall gewesen, dachte er zornig. Ich weiß es anders, aber Charles begreift nicht, wenn ich versuche, ihn wissen zu lassen, daß diese Kraft zweckgebunden ist und durch bloße Launen nicht erschlossen werden kann.
An einem Samstag im Oktober ließen Charles und Douglas Bent sich vom Ausfahrer des Gemüsehändlers mitnehmen, weil sie zum Fischen wollten. In der Nähe vom Wehr, gleich am Stadtrand, stiegen sie aus und kletterten die zackigen Steinvorsprünge neben dem alten Kraftwerk am Nordufer des Flusses hinunter. Das Wasser stand hoch, floß wie ein endloses Tuch aus dunkelgrüner Seide die ganze Breite des Wehrs hinunter, ergoß sich schäumend über die Fischtreppen zu beiden Seiten. Auf der anderen Flußseite konnten sie unterhalb des neuen Kraftwerks die öffentliche Anlegestelle sehen, wo die Angler sich in langer Reihe drängten, und waren froh, daß sie ans Nordufer gekommen waren, wo nur ein paar junge Leute fischten. Sie sahen, daß auf diesem Ufer niemand viel fing, dennoch spießten sie Würmer auf ihre Haken und schleuderten die Leinen in das ruhige, tiefe Wasser zwischen dem Ende der Deichmauer und der alten Sandsteinmauer des alten Kraftwerks, das jetzt nicht mehr in Betrieb war. Das Wasser hatte einen metallischen Schimmer und sah bedrohlich aus mit seinen tiefen Strudeln.
»Hier müßt’s eigentlich Flußbarsche geben«, bemerkte Douglas.
»Mir wär’ ein Weißfisch oder ein Rotauge auch schon recht«, versetzte Charles. Von Douglas hatte er die Namen der Fische rasch gelernt, gefangen hatte er noch nie etwas. »Oder vielleicht ein Hecht mit grüner Unterhose oder einer rosa Bauchbinde«, fügte er hinzu, um Douglas zum Lachen zu bringen. Er brachte Douglas gern zum Lachen, und der kleinere Junge ging immer bereitwillig auf die Scherze ein. Häufig lachte er so heftig über die Verrücktheiten seines Freundes, daß ihm die Tränen über das Gesicht liefen.
Nachdem sie eine Weile schweigend geangelt hatten, sagte Douglas: »Kommst du mit Mrs. Stumway einigermaßen zurecht?«
»O ja, sie ist gar nicht so übel. Eigentlich sollte ich dieses Wochenende das Klo streichen, aber sie hat nichts mehr davon gesagt, als ich gefragt hab’, ob ich zum Fischen gehen könnte.«
»Mußt du viel für sie tun?«
»Nee. Sie ist komisch. Weißt du, ich wohn doch da und leb von ihrem Essen, und sie verlangt überhaupt nicht viel von mir.« Charles sagte es nachdenklich und wurde sich bewußt, daß es wahr war und daß er darüber eigentlich noch nie nachgedacht hatte. Vielleicht ist sie reich, dachte er sich, und sagte: »Vielleicht ist sie reich, was meinst du?«
»Keine Ahnung. Ma hat mir erzählt, daß ihr und ihrem Mann früher der ganze Grund rund um den kleinen Wald gehört hat, auch das Stück, wo die Schule steht, und alles, aber daß sie dann auf einmal alles verkauft und die Landwirtschaft aufgegeben haben. Das war, noch ehe ihr Mann krank wurde.«
»Sie hat bestimmt Geld«, meinte Charles ohne sonderliches Interesse. »Ich glaub, sie schickt immer Schecks mit der Post weg, weil sie nämlich
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