Werwelt 02 - Der Gefangene
eines Granitfelsens.
Ich überdenke das bißchen, was sie mir gesagt hat, präge es meinem Gedächtnis ein, sorge dafür, daß es für Barry abrufbar ist, wenn er wieder erwacht. Wie kommt es, daß dieses Kind über weite Entfernungen hinweg mit mir sprechen kann? Nie zuvor habe ich das mit einem anderen Menschenwesen erlebt. Die Verbindung zwischen uns muß also enger sein, als ich gedacht hatte. Das Kind fehlt mir. Etwas, das ich nie zuvor empfunden habe, die Sehnsucht nach einem anderen Wesen, steigt in mir auf wie ein langsam empordrängender Blutschwall. Was ist das für ein Gefühl? Es ist nicht Zorn, noch Lust, noch Furcht, noch irgend etwas Körperliches, und doch spüre ich es in Geist und Körper zugleich, ein ziehendes Gefühl des Verlangens, das mich veranlaßt, nach dem Kind Ausschau zu halten, als könnte es in der Nähe sein. Es ist anders als Hunger, anders als fleischliche Begierde, anders als das Bedürfnis des Körpers nach freier Bewegung. Wie soll ich dieses Gefühl nennen? Kummer? Ist es etwas wie Liebe? Empfinde ich Liebe?
Ich merke, daß ich ganz steif bin vom langen Sitzen in derselben Haltung. Ich stehe auf und wandere herum. Der Mond ist jetzt hinter den Vulkanen verschwunden. Wie kann ich ein Menschenkind lieben? Ich bin kein Menschenwesen. Vielleicht ist sie eine von meiner Art? Aber sie hätte sich nicht entführen lassen, wenn sie das wäre.
Mein Kopf schmerzt. Nie zuvor habe ich soviel nachgedacht und gegrübelt. Alle meine Sinne sind stumpf. Ich bin wohl das, was Barry niedergeschlagen nennen würde. Es muß wohl so sein, daß ich langsam zum Menschen werde. Langsam trotte ich ins Haus zurück und krieche wieder ins Bett.
Das Läuten des Telefons trieb Barry aus dem Bett, ehe ihm Zeit blieb, richtig wach zu werden. Er prallte erst gegen den Türpfosten und dann im Flur gegen die Wand, ehe er sich wieder zurechtfand. Er nahm den Hörer ab und sagte mit verschlafener Stimme: »Hallo, wer ist da?«
»Barry? Hier spricht Vaire.«
Blitzartig wurde er hellwach.
»Ja, ich bin selbst am Apparat. Ich bin schon wach.«
Er blickte sich um, um festzustellen, ob es Tag oder Nacht wäre. Als er die strahlende Sonne sah, wurde ihm klar, daß er bis zehn oder länger geschlafen haben mußte.
»Ich hab’ mich inzwischen nach dem Freund von Bill erkundigt, du weißt schon.« Ihre Stimme klang klar und sehr nahe. »Die beiden sind vor über einer Woche hier weggefahren. Sie erklärten, sie wollten irgendwo im Norden auf die Jagd gehen. Sie müßten eigentlich schon längst wieder da sein.«
»Im Sommer darf doch überhaupt nicht gejagt werden«, versetzte Barry, der noch immer nicht ganz in die Realität zurückgefunden hatte.
»Das weiß ich, und Clydes Frau weiß es jetzt auch. Sie hat gesagt, daß sie die Polizei anruft, wenn er nicht spätestens morgen wieder da ist. Er hat ihr nämlich fast kein Geld dagelassen. Und noch was Barry –«
»Ja, ich höre, ich versuche nur, gleichzeitig zu überlegen.«
»Die beiden haben einen Haufen Gewehre und Munition mitgenommen«, sagte sie. »Der Mann heißt Clyde Lowden und ist ein Waffensammler. Er hat alle möglichen Waffen, und seine Frau hat mir erzählt, daß die beiden fast alle mitgenommen haben.«
»Wozu denn das?« Barry war verwirrt. »Was wollen sie denn mit den ganzen Gewehren?«
»Also, ich glaube, daß Clyde und Bill abgehauen sind. Vielleicht haben sie vor, außer Landes zu gehen oder so was. Vielleicht wollen sie nach Spanien, um dort an der Revolution teilzunehmen, oder nach Mexico.«
Vaires Stimme war ruhig, doch sie sprach sehr schnell und hastig.
»Aber hör mal, Vaire, in Mexico findet keine Revolution statt, die einen Burschen von Bills Schlag interessieren könnte. Und was Spanien angeht, frage ich mich, auf welcher Seite die beiden kämpfen würden. Jedenfalls ist das Ganze einfach albern. Ich will dich bestimmt nicht kränken, Vaire, aber – also, ich weiß auch nicht«, schloß er lahm.
»Warte, da ist noch etwas«, sagte Vaire, als läse sie die Informationen Punkt für Punkt von einer Liste ab. »Es ist wahrscheinlich noch ein anderer Mann mit ihnen gefahren, ein älterer Mann namens Ludwig. Das ist sein Nachname. Sie nennen ihn Wiggy, sagte mir Mrs. Lowden, und er arbeitet manchmal in Clydes Installationsgeschäft.«
»Sag mal, was hat dieser Lowden übrigens für einen Wagen?«
»Ich dachte mir schon, daß du das wissen möchtest. Es ist ein neuer La Salle, den er erst vor zwei Monaten gekauft hat. Seine
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