Werwelt 03 - Der Nachkomme
gewesen war. Gleichzeitig machte er Atemübungen und spürte, wie sein Körper sich langsam lockerte, sein Geist sich von dem weißen Papier und den genau skizzie r ten Entwürfen entfernte, an denen er gearbeitet hatte. Mit der Entspannung kam eine wohltue n de Müdigkeit, die weit in den Schlaf führen würde, meinte er, während er nun Brust und Schultergürtel lockerte. Doch anstatt einzuschl a fen, schien er in jenem Schwebezustand zu verharren, bei dem sich das Gefühl beinahe schwerel o ser Leichtigkeit einstellt, das dem Schlaf vorausgeht, ehe wir ins Unbewu ß te hinuntersinken.
Bo fühlte sich leicht, so als wiege sein Körper nicht mehr als ein, zwei Unzen, dachte er schläfrig, und der G e danke stieg nur langsam auf, als wäre er in seinem Körper verankert, und der Körper schliefe allein ein. Es war ein angenehmes Gefühl, auf diese Weise über dem Schlaf zu schweben, doch er fand, es wäre Zeit, zur Ruhe zu ko m men. Er drehte sich also herum, um sich in einen Traum einspinnen zu lassen. Statt dessen schwebte er in die Du n kelheit hinaus wie ein Kinderhänden entglittener Ballon. Schwerelos fühlte er sich über dem Boden hängen. Er blickte zurück und sah seinen schlafenden Körper auf dem Rü ck en im Bett liegen, einen Arm auf der Brust, die A u gen geschlossen. Der Atem ging langsam und regelmäßig. Es war so ähnlich wie damals in Boston, als er seinen Kö r per verlassen hatte und beinahe gestorben wäre. Mit einem langsamen und sorgsam kontrollierten Gedanken erinnerte er sich seines Besuchs bei Charles auf der Wiese. Doch als er zur Decke emporzusteigen begann, schnitt er den G e danken ab. Das wollte er jetzt nicht. Sonderbarerweise empfand er diesmal keine Furcht, sondern fühlte sich wohl in diesem Zustand, hatte kaum Verlangen, sich wieder mit seinem schlafenden Körper zu vereinigen. Die Leichtigkeit hatte sich jetzt in jeden Winkel seines unsichtbaren Leibes ausgebreitet, und er empfand eine langsam wachsende Freude, die wie ein brennendes Licht in seinem Inneren war. Als das Licht seine Konturen füllte, so daß er den Arm heben und ein durchscheinendes, glühendes Glied sehen konnte, richtete er seine Gedanken langsam und sorgfältig auf Lilly.
Als er ihren Namen dachte, spürte er, wie Bewegung in ihn kam. Er stieg zur Decke hinauf und glitt durch sie hi n durch, ohne mehr zu fühlen, als wenn er durch einen Win d schleier geflogen wäre. Durch das Dach des Hauses schwebte er ins Freie hinaus, glitt zwischen den Molekülen von Holz und Dachpappe und Kaminziegeln hindurch und verspürte ke i ne Kälte in der Nachtluft, die von Sternenlicht schimmerte. Immer höher stieg er, und sah die Berge im Osten und Norden der Stadt, das erleuchtete Capitol mit seiner gold e nen Kuppel, den Tempel, der in der Dunkelheit funkelte.
»Lilly?« sagte er, und begann schneller dahinzutreiben, nach Süden dachte er, doch da flog er schon zu schnell, daß er es nicht mit Gewißheit sagen konnte. »Lilly Penfield«, rief er wieder, und sein Flug steigerte sich zu rasender G e schwindigkeit, während rundum ein Geräusch anschwoll, als würde Luft in einen Schlauch eingesogen. Unablässig dachte er an ihr Gesicht und sprach ihren Namen, während die Nacht sich zu undurchdringlicher Schwärze wandelte, und er spürte, wie seine Geschwindigkeit sich der des Lichts annäherte, das das Universum durchmißt.
Dann kam plötzlicher Lichtschein und Innehalten. Er stand in einem Zimmer, doch er konnte den Boden unter seinen Füßen nicht sehen. Es waren Wände da, aber sie schienen nur angedeutet zu sein, wie bei einem modernen Bühnenbild, dachte er. An der einen Wand stand ein Stuhl, und auf dem Stuhl, in einem blauen Kostüm, das Haar in dunklen Locken um das schmale Gesicht, saß Lilly Pe n field. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Hände lose im Schoß gefaltet. Sie schien aufrechtsitzend eingeschlafen zu sein, den Kopf leicht nach vorn geneigt. Stundenlang, wie es Bo schien, blickte er sie an, ehe er eine Bewegung wa g te. Er versuchte zu ihr zu gehen, seine Beine bewegten sich, er konnte den Boden unter seinen Füßen fühlen, und doch kam er ihr keinen Schritt näher. Er begann zu rennen, doch das war noch schlimmer, weil die Frustration noch stärker wu r de. Er konnte ihr nicht näherkommen, und sie rührte sich nicht, obwohl er sehen zu können glaubte, daß ihre Brust sich atmend bewegte und ihre Lider zuckten wie im Schlaf.
Schließlich stand er still, fünf Schritte von ihr entfernt, getrennt
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