Werwolfkind (German Edition)
wegfuhren. Der Jeep stand unten am Berg auf dem Weg.
Der steile Aufstieg machte Cascia, der nicht mehr jung war, schwer zu schaffen. Er keuchte und pustete. Seine Lunge ging wie ein Blasebalg.
»Mein Herz! Ich krieg keine Luft…«
»Sie sprechen ja doch. Da atmen Sie auch. Reißen Sie sich zusammen, Professor, es ist nur noch eine kurze Strecke. Ein paar lumpige hundert Meter.«
»Das haben Sie schon vor zehn Minuten gesagt. Ich muss eine Pause einlegen, sonst breche ich zusammen.«
Francesca überlegte. Sie musste zur Quelle, wenn sie wartete, bis sich der Professor erholt hatte, verlor sie wertvolle Zeit. Und so wie er dahinstolperte, keuchte und alle paar Meter verschnaufte, machte es mit ihm keinen Sinn.
»Legen Sie eine Rast ein, Professor Cascia. Ich eile voran, kommen Sie nach.«
»Aber wo… wie…?«
»Steigen Sie einfach geradeaus weiter den Berg hoch. Dann wo der Wald aufhört nach rechts – das sehen Sie schon die Klosterruine, die Eiche und auch die Quelle.«
Damit lief Francesca leichtfüßig los. Sie war in der Gegend aufgewachsen und kannte hier jeden Fußbreit Boden.
Cascia rief ihr hinterher, er streckte die Hand aus.
»Marchesa, Sie können mich doch nicht allein lassen. So warten Sie doch, ich komme ja gleich. – Sie ist fort, nein, so ein Leichtsinn. Sie hat keine Waffe. Wenn sie doch wenigstens meine kleine Beretta mit den Silberkugeln mitgenommen hätte. Aber dann wäre ich ohne Waffe. – Was ist das? Ein Wolfsgeheul. Das sind die Werwölfe, Benito und Beatrice wissen, dass Ricardo mit Marco beim Kloster ist. Sie haben sie gewittert. – Jetzt ist auch noch die Marchesa unterwegs, ganz allein, diese leichtsinnige junge Frau. – Oh, was für ein Unheil, was für eine Nacht. Erst die Narren aus San Clemente mit ihrem Sturm auf das Schloss, jetzt das…«
Keuchend schleppte der Professor sein Übergewicht weiter den Berg hinauf, durch den nächtlichen, dunklen Wald. Nur stellenweise leuchtete der Vollmond bis auf den Boden. Den Professor hörte man schon auf die Entfernung hin keuchen und prusten und durch das Unterholz trampeln.
Langsam kam er voran.
Das Wolfsgeheul ertönte wieder. Francesca hörte es. Sie hatte Cascia weit hinter sich gelassen. Jetzt verließ sie den Wald. Rechts von ihr, vielleicht hundert Meter entfernt, heulten Benito und Beatrice. Francesca sah die Klosterruine vor sich auf dem kahlen Hang. San Bernardo war schon lange verlassen.
Die Gebäudedächer waren längst eingebrochen, die Mauern bröckelten nieder. Die Felder, die es hier einmal gegeben hatte, und den Weinberg hatte sich die Natur zurückgeholt. Der Glockenturm der Kapelle reckte sich aus den Ruinen wie ein einzelner Zahn in einem sonst zahnlosen Mund.
Vor dem Eingang in der niederen Mauer, die die Klosterruine umgab, befand sich bei einer verkrüppelten Traubeneiche die Quelle. Dort, vor einer Brombeerhecke, erblickte Francesca in 150 Meter Entfernung ihren Mann und den Sohn.
Die Gestalt, die den einjährigen Buben Marco bei der Hand hielt, musste Ricardo sein. Aber wie sah er aus? Über und über mit langen schwarzen Haaren bewachsen, mit einem Schädel mit einer spitzen Schnauze, Wolfsohren, rotglühenden Augen und Reißzähnen.
Marco hatte seine menschliche Gestalt, die eines kleinen Kindes.
Francesca stieß einen Schreckensschrei aus. Rechts von ihr, hundert Meter entfernt, trotteten Benito und die schwarze Wölfin aus dem Wald. Benito war dunkelgrau, er sah aus wie ein übergroßer, struppiger Köter. Knurrend schlichen sie näher zur Quelle.
Francesca rannte, sie strauchelte und fiel, riss sich die Hände auf. Raffte sich wieder hoch, rannte weiter.
»Ricardo!«, schrie sie. »Marco.«
Ricardo hörte sie mit seinen scharfen Sinnen. Er warf den Kopf zurück, im Vollmondlicht sah sie ihn deutlich. Aber er heulte nicht auf, um seinen Sohn nicht zu erschrecken. Marco spürte, dass das sein Vater war. Er fürchtete sich nicht, was Francesca erleichterte.
Sie rannte. Benito und Beatrice näherten sich, blieben jedoch in einiger Entfernung von dem Werwolf Ricardo. Vielmehr von dem Ricardo, der eine Mischung von Wolf und Mensch war. Ein Ungeheuer. So hatte ihn Francesca noch nie gesehen.
Er hob seine Krallenhand.
»Bleib weg, cara mia – Liebste. Siehst du nicht, dass du störst?«
»Was hast du getan? Was hast du mit meinem Jungen gemacht?«
Marco hatte Kinderkleidung an. Sein Vater hatte ihn angezogen.
»Ich habe ihn in der Quelle gebadet und die Worte gesprochen, die Cascia mich
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