Wes - Wächter der Nacht
mir.“
„Also … sprichst du einfach nie über Ethan. Mit niemandem?“
„Nein. Ich meine, Bobby weiß natürlich Bescheid. Er war auf der Beerdigung, aber …“ Er schüttelte den Kopf. „Die meisten interessieren sich nicht für meinen toten kleinen Bruder.“
„Ich schon“, sagte Brittany.
Wes stand einfach nur da, schaute sie an, einen äußerstseltsamen Ausdruck im Gesicht. Sie hätte ein halbes Jahresgehalt dafür gegeben, zu erfahren, was er dachte.
Aber dann wandte er sich ab und begann am Toaster herumzufingern. „Tja, weißt du, ich weiß einfach nicht, wo ich anfangen soll. Verstehst du?“ Ein kurzer Blick zu ihr. „Soll ich damit anfangen, dass er verblutet ist, eingeklemmt in seinem Wagen, noch bevor der Rettungswagen am Unfallort war?“
Oh Gott. „Ja.“
Er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich kann nicht. Ich … Es ist besser, wenn ich nicht …“
„War er bei Bewusstsein?“, fragte sie.
Wes setzte sich an den Tisch und strich sich mit den Händen übers Gesicht. „Oh Mann, du willst wirklich, dass ich darüber rede, richtig?“ Er schaute auf. „Ehrlich, Britt, ich glaube, ich kann das nicht.“
Sie öffnete den Kühlschrank und holte die restlichen vier Flaschen Bier heraus, stellte sie auf den Tisch. „Vielleicht brauchst du ein bisschen Ölung?“
„Was? Willst du mich betrunken machen?“
Sie setzte sich neben ihn. „Wenn das nötig ist, um dich zum Reden zu bringen: Ja, vielleicht.“
Er schob das Bier weg. „Ich habe es dir schon gesagt: Betrunken bin ich nur schwer erträglich. Wenn ich zu viel trinke, sage ich ziemlich üble Dinge. Lauter hässliche Wahrheiten. Sparen wir uns das, ja?“
„Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht. Du kannst sagen, was immer du willst, wonach immer dir gerade ist. Ich schwöre, es wird nie jemand anderem zu Ohren kommen.“
Er schaute ihr unverwandt in die Augen. „Ich glaube, ich bin Alkoholiker“, sagte er. „Ich habe mir ein Bier pro Tag als Grenze gesetzt, aber ich fange schon an, mich daraufzu freuen und mich bereits mittags darauf vorzubereiten. Wo werde ich es mir kaufen? Was für ein Bier soll es heute sein? Wenn ich ein frisch gezapftes nehme, wird es ein halber Liter. Eine Flasche hat nur null Komma drei Liter. Aber beides zählt als ein Bier, also ende ich meistens bei einem frisch gezapften.“ Er lächelte kläglich. „Nur damit du siehst, dass ich keine Angst habe, über Persönliches zu reden. Ich bin einfach nur noch nicht so weit, über Ethan zu reden.“
„In Ordnung“, sagte sie und stellte das Bier zurück in den Kühlschrank. „Aber wenn du je deine Meinung ändern solltest – ich bin Krankenschwester, ich habe schon mehr als genug Unfallopfer gesehen. Ich weiß, was ein Telefonmast aus einem Auto und dessen Insassen machen kann und wie Opfer von Frontalzusammenstößen aussehen. Meistens haben sie schwerste Kopfverletzungen. Sie prallen auf, verlieren das Bewusstsein und …“
„Er war bei Bewusstsein“, unterbrach Wes sie. „Seine Beine waren zertrümmert. Er muss grässliche Schmerzen gehabt haben.“
„Oh Gott.“ Sie schlang die Arme von hinten um ihn, drückte ihn tröstend und legte ihre Wange auf seinen Kopf. „Es tut mir so leid, Schätzchen!“
„Es hätte nicht den geringsten Unterschied gemacht, wenn ich zu Hause gewesen wäre, weißt du? Wieder und wieder habe ich mir das durch den Kopf gehen lassen. Der Unfall geschah gut zwanzig Minuten von zu Hause entfernt. Bis ich bei ihm gewesen wäre … Es sei denn, ich hätte mit ihm im Auto gesessen …“
„Dann wärst du jetzt auch tot.“
„Ja, ich weiß.“ Er klang so, als täte es ihm leid, dass er es nicht war.
Brittany richtete sich auf und begann ihm Schultern und Nacken zu massieren.
Er seufzte und senkte den Kopf, damit sie besser an seinen Nacken herankam. „Oh Gott, hör bitte nie mehr auf damit.“
Seine Schultermuskulatur war hart wie ein Brett. „Du bist unglaublich verspannt.“
„Ich habe Angst, worüber du als Nächstes mit mir reden willst.“
„Na gut, sprechen wir über etwas Schönes. Erzähl mir etwas Gutes über Ethan.“
Wes lachte. „Du hörst nicht auf, nicht wahr?“
„Du hast mich darum gebeten, nicht aufzuhören.“
„Das meinte ich nicht.“
„Über jemanden zu reden, den du geliebt hast, sollte dir nicht schwerfallen, Schätzchen. Erzähl mir … erzähl mir, wie er als kleiner Junge war.“
Einen Moment schwieg er. Dann sagte er: „Er war ruhig, hat immer gelesen.
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