Wetterleuchten
habe das Recht...«
»Sie haben gar kein Recht«, teilte Ivar ihr mit. Er hielt sie fest und fing an, sie vom Wasser wegzuzerren. Er rief Jenn und Becca zu: »Wir müssen sie beide zurück zum Wohnwagen bringen. Hast du gehört, Becks? Wir müssen reingehen, die Vorhänge schließen und dort bleiben.«
»Nein!« Annie ließ einen schrillen Schrei fahren.
Er war so markerschütternd, dass Jenn sich erschreckte. Sie lockerte ihren Griff um Chad. Er machte sich los und stürmte auf Ivar zu. Eddie fing ebenfalls an, auf Ivar zuzurennen. Draußen im Wasser bellte die Robbe immer weiter. Becca murmelte: »Eddie. Er weiß auch über alles Bescheid.«
Aus Jenns Sicht drehte die ganze Welt völlig durch.
Da öffnete sich die Tür des Wohnwagens.
Cilla trat heraus.
Cillas Welt
I ch habe mein Leben Lang auf diesen Augenblick gewartet. Aber das wusste ich nicht, denn bis zu diesem Moment war die Welt ein furchterregender Ort für mich.
Selbst jetzt bin ich mir nicht ganz sicher, denn Leute schreien, das Wasser der Passage schlägt gegen die Kieselsteine am Ufer, und draußen im Wasser bellt eine Robbe. Das ist endlich etwas, das ich wiedererkenne. Es ist endlich etwas, dessen ich mir sicher bin. Aber ich weiß nicht, warum.
Ich schlafe, als draußen vor dem Wohnwagen das Chaos ausbricht. Ich habe so gut wie keine Kraft mehr, weil ich krank bin, aber als ich im Innern des Wohnwagens lausche, weiß ich, dass ich sehen muss, was jenseits seiner dürftigen Wände passiert. Als ich es sehe, begreife ich, dass ich dazu bestimmt bin, es zu verstehen. Und jetzt wird mir klar, dass mich von dem Moment an, als die Mommy und der Daddy verschwunden sind, alles hierhergeführt hat.
Ich bin Cilla. Ich bin achtzehn Jahre alt. Ich bin ein Mädchen, das nicht sprechen, aber hören kann. Ich tue, was man mir sagt, wenn man gut zu mir ist. So ist es schon immer gewesen.
Auf der anderen Seite der Wohnwagenwände sehe ich die Frau, die mich gepflegt hat. Ich sehe das Mädchen, das mich gefunden hat. In nicht allzu weiter Ferne sehe ich einen Mann, der sich von einem angeschwemmten Baumstamm entfernt, der so groß ist wie ein Schwertwal, und er hat ein Gesicht, von dem ich gedacht hatte, dass ich es nie wiedersehen würde. Es ist ein Gesicht, das tief in meiner Erinnerung vergraben war, aber jetzt, da ich es sehe, fange ich an, mich zu erinnern. Ich erinnere mich an seine Arme, als er mich hochgehoben hat. Ich erinnere mich daran, wie ich über seine Schulter die Nacht und das tiefe, schwarze Wasser betrachtet habe.
Und da ist er und entfernt sich von dem Schwertwal-Baumstamm. Auf das Stück Holz hat er etwas gelegt. Es ist klobig und unförmig, aber ich werde davon angezogen, und so trete ich aus dem Wohnwagen und in die Abendluft hinein.
Die Leute weichen vor mir zurück. Die Frau, die mich gepflegt hat, schreit etwas, aber ich höre sie jetzt nur undeutlich. Ein alter Mann neben ihr schreit ebenfalls. Ich sehe zu ihnen beiden und dann wieder weg.
Ich laufe an ihnen vorbei. Ich nähere mich dem Baumstamm und dem, was darauf liegt.
Kapitel 44
D ie schwarze Robbe im Wasser schwamm vorsichtig auf Cilla zu. Am Strand sagte keiner ein Wort, doch das Flüstern brach so lautstark durch die Luft, dass Becca nicht mehr unterscheiden konnte, was von wem kam. Stattdessen sah sie zu, wie Cilla den angetriebenen Baumstamm erreichte, auf den Eddie Beddoe das kleine Robbenfell gelegt hatte. Sie kletterte auf den riesigen Stamm und hob das Robbenfell an ihr Gesicht. Ein paar Meter vom Ufer entfernt schwamm Nera hin und her.
»Sie will ans Ufer kommen«, sagte Becca.
»Das darf sie aber nicht«, entgegnete Ivar grimmig. Als Cilla aus dem Wohnwagen getreten war, war er so überrascht gewesen, dass er Annie Taylor losgelassen hatte. Diese lief jetzt zu dem Ködereimer auf dem Kai, als ob sie noch einmal versuchen wollte, die schwarze Robbe ans Ufer zu locken. Sie warf ihr ein paar Heringe zu, doch Nera beachtete sie gar nicht. Sie achtete auch nicht auf Chad, der sich aus Jenns und Beccas Griff befreit hatte. Er sah von der Robbe zum Mädchen auf dem angetriebenen Baumstamm, während Nera hin- und herschwamm und das Mädchen beobachtete.
Cilla vergrub ihr Gesicht im Robbenfell. Das Fell war schwarz wie die einbrechende Nacht, aber nicht — so konnte Becca sehen - von dem Öl, das damals den Possession Sound verschmutzt hatte. Es war genauso schwarz wie Nera und verriet endlich den wahren Grund ihrer alljährlichen Rückkehr nach Whidbey
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