Wetterleuchten
Derric Mathieson, der er versuchte zu sein. Hier ging es nicht um Courtney Baker, redete Becca sich ein. Hier ging es darum, dass Derric sich treu blieb. Das zumindest musste er tun.
Becca steckte das Paket in ihren Rucksack. Sie verließ schnell das Tipi und den Wald. Das Tageslicht ließ schon nach, als sie ihren Marsch zurück nach Langley begann. Es waren mehrere Kilometer, aber es wurde spät und sie konnte es nicht riskieren, auf einen Bus zu warten.
Sie erreichte Langley schneller, als sie gedacht hatte, denn als sie die Straße entlangmarschierte, hielt eine ältere Dame mit einer lilafarbenen Strähne im Haar neben ihr und bot ihr an, sie in die Stadt mitzunehmen. So durchgefroren, wie sie war, stieg sie nur zu gerne ins Auto und wurde von zwei Zwergdackeln, ABBAs Greatest Hits und einer voll aufgedrehten Heizung in Beschlag genommen. Fünf Minuten später stand sie vor der Gemeinschaftspraxis, wo Derric nach Feierabend immer auf seine Mom wartete.
Er war allein im Wartezimmer. Sein Kopf war über ein offenes Heft gebeugt, er las in einem Buch und schrieb dann etwas auf. Als die Tür aufging, sah er hoch. Einen Moment lang begegnete er Beccas Blick, schaute dann aber weg und schrieb weiter.
Becca wartete nicht darauf, was ihr sein Flüstern verraten würde. Sie hatte den Hörer der AUD-Box auf dem Weg zum Wald aus dem Ohr genommen und nicht wieder hineingesteckt, aber sie hielt nicht inne,um einschätzen zu können, wie er sie empfangen würde. Sie fürchtete, sonst den Mut zu verlieren. Stattdessen marschierte sie durch den Raum und setzte sich direkt neben ihn.
Er wollte aufstehen. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Hey, was soll ...«, sagte er, aber das war alles, weil sie in dem Moment ihren Rucksack öffnete und eine Sekunde später das Paket herausholte. Er wusste ganz genau, was darin war.
Dann hörte sie, wie sich sein Flüstern überschlug: Das gibt’s nicht ... sie wird ... konnte nicht ... jetzt gibt’s ... verdammt, verdammt, verdammt ... das also ... klasse ... kein Vertrauen ... hörte sie, und sie hätte die abgerissenen Gedankenfetzen problemlos vervollständigen können, weil sie wusste, dass sie sich auf das bezogen, was auf ihrem Schoß lag. In dem Paket waren Dutzende Briefe, die Derric an Freude geschrieben hatte. Sie war fünf Jahre alt, als er sie zurückgelassen hatte. Da sie kaum drei Jahre alt gewesen war, als sie zur Waise wurde, hatte sie nicht einmal gewusst, dass er ihr Bruder war.
Derric flüsterte so grimmig, dass es sich wie eine Ohrfeige anfühlte: »Was machst du damit? Was glaubst du eigentlich ... Du hast kein Recht...«
»Das bist du«, erwiderte sie. »Davor rennst du davon. Und das gibt mir das Recht.«
»Du hast keine Ahnung, wovon du redest. Was, glaubst du, wird jetzt passieren? Dass ich auf die Knie falle, dir eine Liebeserklärung mache und dich um Vergebung bitte und ...«
»Es geht hier nicht um uns«, fauchte sie. »Es gibt kein uns mehr. Daran hast du keinen Zweifel gelassen. Okay. Ich hab’s kapiert. Schluss aus. Es ist vorbei. Aber das hier ... was ich in meinen Händen halte? Da geht es um dich und um deine Schwester.«
»Halt die Klappe! Halt die Klappe!«
»Das werde ich nicht tun. Du hast Freude die letzten acht Jahre versteckt, und jetzt versteckst du dich selbst. Glaubst du, ich kann dabei zusehen?«
»Ich hab gesagt, du sollst die Klappe halten!«
»Du hast Flaggen und Bilder abgenommen, du lässt dir die Haare wachsen, und alle denken: >Oh schaut mal, er wird Amerikaner<, dabei machst du in Wirklichkeit...«
»Verschwinde!« Er riss ihr die Briefe aus der Hand.
»Du kannst dich nicht weiter verstecken ...«
»Was fällt dir ein ...?« Er steckte das Paket in seinen Rucksack. Sein Gesichtsausdruck war so hart, wie Becca ihn noch nie gesehen hatte. Er flüsterte grimmig: »Du meinst also, du kannst mir vorwerfen, Dinge vor anderen zu verstecken? Das ist echt das Letzte. Einfach nicht zu fassen. Ich verstecke nur einen Haufen Briefe. Während du ...«
»Das denkst du? Dass das nur ein Haufen Briefe ist? Bitte. Fang erst gar nicht so an. Du versteckst deine eigene Schwester. Du tust so, als würde Freude gar nicht existieren, und damit versteckst du die Wahrheit. Du denkst, dass, wenn du dich in einen hundertprozentigen Amerikaner verwandelst, mit einer süßen blonden Freundin und ...«
»Darum geht’s also! Ich bin mit Courtney zusammen und du ...«
»Oh bitte. Du könntest mir schon ein bisschen mehr zutrauen. Hier geht es
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