Wetterleuchten
Vor allem, wenn du ihm sagst, dass ich erst fünfzehn bin.«
»Danach wird er nicht fragen. Und ich sage ihm auch nicht, dass wir Sex haben. Nur, dass ...«
»Was denn? Dass wir Gras rauchen? Er kommt sicher ganz schnell dahinter, dass ich mich hier verstecke.«
»Sei doch nicht so paranoid. Das wird schon.« Und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, verließ er das Baumhaus mit den Worten: »Ich bin gleich wieder da.«
Als Seth weg war, wurde ihre Angst davor, wie das Gespräch wohl ausgehen würde, immer größer. Zuerst wäre sie ihm beinahe hinterhergelaufen, durch den Wald hindurch zu Ralph Darrows Haus. Dann hätte sie dem alten Mann ihre eigene Geschichte erzählt und auf sein Mitleid gehofft. Aber welcher Teil der Geschichte würde am besten funktionieren? Der, in der ihre Mutter sie am Fähranleger zurückgelassen hatte und dann verschwunden war? Oder dass sie die Gedanken ihres Stiefvaters lesen konnte und deswegen mit ihrer Mutter aus San Diego geflohen war? Oder dass sie sich in Ralph Darrows Wald versteckte, weil sie um ihr Leben fürchtete? Sie konnte ihm nichts erzählen, was nicht noch weitere Erklärungen nach sich ziehen würde, bis sie schließlich die Karten auf den Tisch würde legen müssen: Ich kann Gedanken lesen und stecke deswegen in Schwierigkeiten.
Nein, sie würde sich wohl oder übel auf Seth verlassen müssen. Darauf, dass er sich etwas ausdachte, das Ralph Darrow glauben würde. Und zwar so lange, bis sie eine andere Unterkunft gefunden hatte. Denn jetzt, wo er wusste, dass jemand das Baumhaus auf seinem Grundstück nutzte, würde er besonders wachsam und auf der Hut sein, ganz gleich, was Seth ihm erzählte. Außerdem war es sehr wahrscheinlich, dass er dann und wann herkommen und sich u m sehen würde.
Sie blickte hinaus in die Dunkelheit. Sie wollte, dass Seth endlich zurückkam. Und noch mehr wollte sie, dass er seinem Großvater etwas erzählte, das Ralph Darrow akzeptieren würde. Er musste glauben, dass niemand in dem Baumhaus wohnte, dass Seth es nur ab und zu nutzte, um mit anderen abzuhängen, zu quatschen, Musik zu machen und Songs zu schreiben, und dass sie danach irgendwann wieder abhauten. Alles andere würde nicht funktionieren.
Komm schon, Seth, dachte sie. Komm. Komm.
Eine Stunde verging. Und noch eine. Während der ersten Stunde packte Becca ihre Sachen. Während der zweiten Stunde nahm sie ihre Taschenlampe, krabbelte aus dem Baumhaus und kletterte die Leiter hinunter. Sie kannte den Weg zu Ralph Darrows Haus. Und sie schien keine andere Wahl zu haben, als diesen Weg jetzt zu gehen.
Der Weg führte sie durch ein Stück Wald, wo das Unterholz dicht war, selbst zu dieser Jahreszeit. Wenn sie sich schnell verstecken musste, konnte sie hinter einen der riesigen Salalbüsche springen. Mitten im Sommer wäre das wegen der Brombeerbüsche und Brennnesseln unmöglich gewesen.
Als sie sich der Lichtung näherte, auf der Ralph Darrows Haus mit seinem prächtigen Rhododendrongarten stand, konnte Becca verbranntes Holz riechen. Nach ein paar Minuten hatte sie den Waldrand erreicht. Sie blieb stehen und sah sich um. Draußen war niemand zu sehen, aber im Haus brannte Licht, und aus dem riesigen Schornstein stieg Rauch. Sie vermutete, dass Seth noch im Haus war.
Sie schlich weiter. Sie war noch nie in Ralph Darrows Haus gewesen, aber sie hatte durchs Fenster geschaut, und das tat sie jetzt auch. Sie wusste, dass sich der Kamin im Wohnzimmer befand, und dort würde auch Seth sein ... falls er noch im Haus war.
Sie spielten Schach. Ausgerechnet Schach! Während sie ängstlich im Wald gehockt und das Urteil erwartet hatte, das über Leben und Tod entscheiden konnte, hatten Seth und sein Großvater Schach gespielt!
Sie war stinksauer und hätte am liebsten ans Fenster geklopft. Hatte Seth etwa vergessen, was er vorhatte? Konnte sie sich jetzt nicht einmal mehr auf ihn verlassen, ihren Freund, ihren einzigen Freund? Sie hätte am liebsten mit den Füßen gestampft und herumgeschrien.
Er schien das zu spüren, denn er sah auf, und ihre Blicke trafen sich. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf. Erst sah er zu seinem Großvater hinüber und dann wieder zu ihr. Sie kapierte die Botschaft und zog sich zurück.
Aber sie ging nicht zurück zum Baumhaus. Sie musste erst wissen, was das Gespräch ergeben hatte. Sie ging zurück zum Waldweg und wartete dort. Aber sie wartete nicht lange.
»Das war eine ganz blöde Idee von dir«, sagte Seth, als er zehn Minuten später zu
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