Whisper Island (01) - Sturmwarnung
unmerklichen Geruch wahr, den sie aber sofort erkannte.
Sie drehte sich um und sah dorthin, wo sie gerade hergekommen waren. Kein Mensch war in der Nähe. Auf dem Platz standen nur die Autos, der Lieferwagen und eine Informationstafel, deren Überdachung Schutz vor schlechtem Wetter bot. An einen der Pfosten, welche das Dach stützten, war ein Fahrrad gekettet.
Becca sah von dem Fahrrad zum Wald. Eine Welle warmer, süßer Luft wogte ihr entgegen, wie ein von Sonnenlicht erwärmter Windhauch. Nur dass hier kein Wind wehte. Alles, was sie spürte, war dieser Duft, der Duft nach gekochten Früchten.
Sie sah Seth an, doch der schien nichts bemerkt zu haben. Als sie zu einem Wanderweg kamen, der in den schattigen Wald hineinführte, beugte er sich zu Gus hinunter und machte ihn von der Leine los.
Sie begannen mit ihrer Wanderung. Fünf Minuten lang war alles ruhig. Sie liefen auf einem Weg entlang durch den Wald, der Boden federte unter ihren Schritten und es roch nach fauligem Laub. Gus lief vor ihnen her, schnüffelte an jedem Stock, hob sein Bein an einem Heidelbeerbusch und kam wieder fröhlich zurückgaloppiert, um sich von Seth ein Leckerli zu holen.
Dann erklang von irgendwoher Gebell, und da ging es los. Gus hob den Kopf und bellte freudig zurück. Seth begann zu ahnen, was er vorhatte, und brüllte: »Gus, du bleibst hier!« Aber da war der Hund schon losgelaufen. Irgendwo im Wald waren andere Hunde, und die musste Gus unbedingt begrüßen. Der Labrador rannte los wie der Blitz und verschwand zwischen den Bäumen.
Seth sagte: »Verdammt! Ich muss ihn wieder einfangen«, und rannte ebenfalls los. Er rief: »Gus, bei Fuß! Bei Fuß!«, während er hinter ihm herlief.
Becca folgte ihnen. Aber Gus’ Bellen wurde immer leiser und bald sah sie auch, warum. Sie kam zu einer von Bäumen gesäumten Gabelung und hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt, in welche Richtung Seth und der Hund gelaufen waren.
Becca blieb stehen. Die Luft war kühl unter den hoch aufragenden Zedern, Hemlock- und Douglastannen. Und sie war voll von Geflüster. Dieses Flüstern war überraschend laut, wenn man bedachte, dass kein Mensch in der Nähe war. Fast so, als würde sich hinter jedem Baum jemand verstecken. Das Flüstern erzählte von Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit und offenbarte Verwirrung, Wut und Verzweiflung. Es kam aus allen Richtungen zugleich.
Becca war es gewohnt, das Flüstern anderer zu hören. Schließlich hatte sie schon damit angefangen, als sie erst vier Jahre alt war. Aber diese Art von Flüstern war zu viel für sie. Ihr wurde schwindlig und es war, als ob das Geflüster sie herumwirbeln würde, während sie versuchte, die verschiedenen Stimmen zu unterscheiden. Und unter all diese Stimmen mischte sich Derrics süßer Duft wie ein steter Unterton.
Also war er tatsächlich hier. Ebenso wie Diana und ihre Hunde. Und die Autos auf dem Parkplatz wiesen darauf hin, dass außer ihnen noch andere Leute im Wald waren. Sie alle führten irgendetwas im Schilde. Und sie waren nicht weit weg.
Sie musste sich für einen Weg entscheiden. Erst rief sie Seth. Und dann Gus. Tatsächlich kam ein Bellen zurück, aber sie hätte nicht sagen können, aus welcher Richtung. Also entschied sie sich willkürlich für den Weg auf der linken Seite, der schon nach knapp fünfzig Metern steil bergauf führte. Sie kletterte über die freiliegenden knorrigen Wurzeln einer uralten Zeder und streifte riesige Holunderbüsche.
Da hörte sie einen Schrei. Es klang nach Seth. Sie schrie zurück, doch als Antwort kam nur das Gebell von mehreren Hunden. Der Weg wurde immer schmaler und steiler, machte eine Haarnadelkurve, war dann von Felsbrocken versperrt und brach schließlich aus dem dicht bewaldeten Gebiet aus, in einen fast baumlosen Abschnitt. Das unerwartete Sonnenlicht blendete Becca und sie stolperte. Sie spürte wieder das Schwindelgefühl von eben, kippte nach hinten und streckte dabei die Hand aus, die einen Baumstumpf streifte, auf den sie sich langsam setzte. Vom Klettern war sie ganz außer Atem. Außerdem hatte sie sich völlig verlaufen, und das ärgerte sie.
Sie versuchte, das Flüstern nicht zu beachten und sich zu konzentrieren. Plötzlich kamen Hunde auf sie zugelaufen. Sie bellten aufgeregt und einer von ihnen sprang sie an und warf sie vom Baumstumpf.
Danach wurde sie von unzähligen Hundenasen beschnüffelt, bis jemand rief: »Hunde!« Becca wusste, dass es Diana Kinsale war. Sie hatte die Hunde schon erkannt, da sie vor
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