White Horse
schnappe mir meinen Rucksack und renne los.
Leute hasten hin und her. Niemand beachtet mich, als ich durch das
Lager stolpere. Von den Rändern der Feuergruben lösen sich Steine und machen
den Weg für rot glühende Kohlebrocken frei. Der Boden ist so trocken, dass sich
die Laubabfälle entzünden. Ãberall schlagen Flammen hoch. Der Wutausbruch von
Mutter Natur spaltet die Erde, schiebt die beiden Hälften zu Trümmerhügeln auf.
Die maroden Trucks fallen um wie Kegel und zerquetschen Menschen unter sich.
Die Welt ist ein Chaos aus Körpern, Metall und Bewegung. In die Kakofonie
mischt sich das schmerzerfüllte Gewieher der Esel, als sie merken, dass sie mit
ihrer gewohnten Sturheit nicht gegen die seismischen Kräfte ankommen, und Hals
über Kopf losstieben, um sich selbst zu retten.
Wir rennen alle, irgendwohin, ohne Ziel. Ein Entkommen gibt es
nicht.
Als die Erde endlich zum Stillstand kommt, hält die Nacht den Atem
an.
»Yanni?«, rufe ich.
In der Nähe liegt eine Frau auf dem Boden. Ich helfe ihr auf. Sie
ist schwer verletzt, Blut läuft ihr über das Gesicht, doch ich kann im Moment
nichts für sie tun. Einer anderen Frau hat ein Wellblech-Dach die untere Hälfte
des Körpers abgetrennt, als sei sie das Opfer eines missglückten Zauberertricks
geworden. Niemand kommt ihr zu Hilfe.
Yanni liegt schlaff wie eine Marionette vor der Motorhaube eines
Pick-ups. Ein Baumstamm presst ihn gegen den Kühlergrill. Der Junge, der so
gern ein Mann sein wollte, ist wieder zum Kind geworden. Sein Kinn zittert, und
Tränen strömen ihm über das Gesicht.
Ich laufe zu ihm. Ich kann nicht anders. Aber ihm ist nicht mehr zu
helfen. Seine Rippen und der verbeulte Chrom bilden ein einziges Knäuel.
»Mein Kleiner.« Ich ersticke fast an meinen unterdrückten Tränen.
»Was machst du für Sachen?«
Er versucht es nicht einmal mit einem Lächeln. »Zigarette?«
Mit zitternden Händen greife ich in seine Hemdtasche. Ich rolle das
Papier um eine dünne Tabakwurst, wie ich das bei ihm gesehen habe, und rauche
die Zigarette an, bevor ich sie ihm zwischen die Lippen schiebe.
Rauch quillt aus seinem Mund. Er kann nicht Luft genug für einen
Lungenzug holen, und so pafft er schnell, schnell, langsam, ehe ihm das Ding zu
Boden fällt. Eine Rauchschlange wickelt sich um mein Handgelenk, als ich die
Zigarette aufhebe und ihm erneut entgegenstrecke.
»Werde ich sterben?«
»Nein, mein Kleiner. Du bist nur sehr müde.«
Er nickt langsam. »Ich werde sterben.«
»Eines Tages werden wir alle sterben.«
»Heute. Wo ist meine Mama?«
Ich schlucke mühsam. Ich kann seine Mutter von hier aus sehen. Sie
liegt reglos da, umgeben von Flammen.
»Bei deinen Geschwistern.«
»Gut.«
Ich kann mich nicht zwischen Baum und Truck durchzwängen, um ihn zu
umarmen und zu trösten, und so nehme ich nur seine Hand in meine und halte sie
fest. Seine Fingerspitzen sind aus Eis. Meine Körperwärme reicht nicht aus, um
sie aufzutauen.
»Es ist alles nur ein böser Traum. Wenn du aufwachst, wird das hier
ungeschehen sein.«
»Kennst du Lieder?«
»Ja.«
»Sing mir was vor. Bitte.«
An einem hellen Ort in meinen Erinnerungen finde ich das Lied, das
mir meine Mutter immer vorsang, die Ballade von dem Mädchen im Tal, das seinen
Liebsten flehentlich bat, sie nicht zu verlassen. Und während ich dem Jungen eine
Strophe um die andere vorsinge, lasse ich meinen Tränen freien Lauf.
In der Tiefe beginnt der träge Tanz der Platten von Neuem.
Knirschend gleiten sie aneinander vorbei, stoÃen im Dunkel zusammen. Das Feuer
breitet sich aus und steigt mit der Leichtigkeit von Feuerwehrmännern, die ihre
Leitern erklimmen, in die zundertrockenen Bäume. Höher und höher klettert es,
bis das gesamte Laubdach in Flammen steht und die Nacht in einen künstlichen
Tag verwandelt. Die Hütten, die dem Beben standgehalten haben, stürzen jetzt
ebenfalls ein und begraben alles unter sich, Menschen ebenso wie ihre Habe.
Jeder versucht sich zu retten. Dunkle Umrisse wuseln umher. Mütter rufen nach
Kindern, Männer nach Frauen. Das Land ist in Bewegung, und es kennt keine
Gnade. Meine Hand umklammert Yannis Arm fester. Ich singe immer noch.
Flammen lecken über einen Lastwagen auf der anderen Seite des
Lagers, küssen das Metall mit der Zärtlichkeit eines Liebhabers. Höher
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