White Horse
mit straffen Schultern und hocherhobenem
Kopf. Die Hände zu Fäusten geballt. Energischer Gang. Die Frau folgt ihm. An
der Art, wie ihr Haar hin und her schwingt, merke ich, dass sie Fragen an ihn
stellt, die er nicht beantwortet.
Bei Pope Pharmaceuticals gehören Sie zur Familie.
Jorge folgt mir am Ende der Schicht in die Umkleiden. »Du
brauchst diese Arbeit nicht.«
Ich gebe keine Antwort.
»Mein Cousin sucht so ân Job.«
Ich beachte sein Geschwätz immer noch nicht.
»Ich weiÃ, dass du in einem teuren Apartment lebst.«
Er ist mir keinen Blick wert. »Du hast in meiner Personalakte
rumgeschnüffelt.«
»Dazu sage ich nichts.«
»Dann weiÃt du sicher auch, dass ich diese Wohnung von meiner
Schwiegermutter habe.«
Auf dem Weg zum Bahnhof sehe ich ihn in seinem verbeulten Truck
davonfahren. Die Eichhörnchen-Schädel baumeln heftig hin und her. An der
StoÃstange klebt ein Schild mit dem Spruch: Jesus ist mein
Kopilot.
ZEIT: JETZT
Wir entdecken am StraÃenrand ein verlassenes Auto. Das
Benzin reicht für zweiundzwanzig Kilometer. Der Schweizer übernimmt das Steuer.
Während der Fahrt vergesse ich kurz, was es heiÃt, nass zu sein.
Als der Motor ruckelt und letztes Todesröcheln von sich gibt, gehen
wir zu Fuà weiter, und ich vergesse, was es heiÃt, trocken zu sein.
»Erzähl mir von deiner Arbeit«, sagt der Schweizer. Ich
sitze zusammengekauert unter einem Baum und versuche auszurechnen, welche
Strecke wir noch vor uns haben. Hundert Kilometer. Mehr oder weniger. Im günstigsten
Fall fünf Tage. Heute ist der zehnte März. Das bedeutet, dass die Elpis planmäÃig in neun Tagen an- und ablegt, mit oder ohne
mich. Danach müsste ich einen ganzen Monat warten, bis sie zurückkommt. Wenn
sie überhaupt noch einmal kommt.
Ich falte die Karte zusammen und verstaue sie in meinem Rucksack.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin Putzfrau. Besser gesagt, ich war
Putzfrau.«
»Eine Putzfrau, die weiÃ, wer Darwin ist.«
»Ich weià so manches.«
Auf der anderen Seite des Baumes öffnet Lisa Wurstkonserven.
Mein Magen knurrt.
»Was hast du geputzt?«
»FuÃböden. Käfige.«
»Bei Pope Pharmaceuticals«, ergänzt er. »Den Namen hast du an der
Scheune erwähnt, als die Rede auf Darwin kam.«
»Ja. Schon mal von der Firma gehört?«
»Sie ist in Medizinerkreisen bekannt. Und was hast du davor
gemacht?«
»Davor hatte ich einen Job, bei dem andere Leute das Putzen erledigten.«
Er beobachtet mich, wie ich das Dosenzeug verschlinge.
Als wir wieder unterwegs sind, fragt er: »Wer ist der Vater deines
Kindes? Kennst du ihn?«
»Ja.«
»Das ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich.«
Lisa humpelt.
»Blasen«, sagt er. »Wenn du die nicht versorgst, bekommt sie eine
Infektion, und du hast sie umsonst gerettet.«
ZEIT: DAMALS
Der Brief kommt an einem Freitag. Mein Name steht auf dem
sauberen weiÃen Umschlag, in einer sehr männlichen Handschrift, die ich sofort
erkenne.
Ich lege ihn ungeöffnet auf den Couchtisch und starre ihn an. In
meinem Wohnzimmer nehmen die groÃen Rätsel allmählich überhand: erst der Krug,
nun dieser Brief.
Das Telefon klingelt. Der Anrufbeantworter schaltet sich ein. Jamesâ
Stimme. »Wie geht es meiner Herzdame? Hör zu, Raoul hat mich gebeten, dir einen
Vorschlag zu machen. Wenn du das Gefäà noch nicht geöffnet hast, könnten wir
dich und das Ding abholen und im Museum röntgen. Was hältst du davon? Komm, sag
ja, und unsere Freundschaft wird ewig währen!«
Ich nehme den Umschlag in die Hand. Leicht. Hauchdünn. Obwohl er
zwischen seinen Papierwänden vielleicht das emotionale Ãquivalent von
Milzbrand-Sporen birgt. Mein Finger verfängt sich in der Verschlussklappe und
reiÃt sie auf.
Zoe, ich kann das nicht annehmen. Wir haben
unsere Sitzung nicht beendet. Egal, ob es sich um einen Traum handelt oder die
Realität â öffne das GefäÃ! Die Wahrheit hilft dir am ehesten weiter.
Darunter steht ganz einfach Nick .
Mein Scheck flattert aus dem Umschlag und schwebt zu Boden.
James hebt beim dritten Klingeln ab. »Zoe!«, sagt er, und
dann: »Raoul, er ist nicht hier.«
Ich höre Raoul aus einem anderen Zimmer rufen: »Sokrates! Sokrates!«
»Hey, ich kann mich später melden, wenn es jetzt gerade
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