White Horse
als
habe er ihn in gelbes Wachs getaucht, das vor dem Erstarren in das L zwischen
Daumen und Zeigefinger geflossen ist. Der Stift wirkt wie ein Fremdkörper in seiner
Hand, weil sie in der Regel etwas anderes umklammert, das weniger feine Punkte
setzt. Eine Schusswaffe.
Rühr mich nicht an!
Rühr mich â¦
»Sie können gehen«, sagt er, obwohl hinter seinem Blick eine Art
kalter Zorn lauert, der mir zu erkennen gibt, dass er mich am liebsten zwingen
würde, andere Antworten zu geben. Er streckt mir die Linke entgegen und schaut
mir in die Augen, bis ich den Kopf zur Seite drehe. Ich weiÃ, dass er kein Arzt
ist. Und er weiÃ, dass ich es weiÃ.
Das Gefäà hat mich paranoid gemacht. Ich sehe in harmlosen Menschen
gefährliche Monster.
Er streckt mir immer noch die Hand entgegen, aber ich stoÃe mich
ohne seine Hilfe von der Kante der Kunstleder-Liege ab. Meine FüÃe landen auf
dem Boden, als steckten sie in Bleischuhen.
Ben ist tot. Ich weià das, weil zwei Männer an meine Wohnungstür
kommen und mir Bescheid geben. Sie haben diese Ruhe und das verknautschte
Aussehen von Bullen, die zu viele Jahre zu viele Stunden auf den Beinen gewesen
sind. Ich sehe an ihren Lippenbewegungen, dass sie ihre Namen nennen, aber tief
in meinen Gehörgängen summt ein Bienenschwarm. Ich kann nicht klar denken.
»Wie ist das passiert?« Ich kann die Antwort nicht von Ihren Lippen
ablesen.
»Einen Moment.« Ich schüttle den Kopf, bücke mich, umfasse meine
Knie. Und zähle bis zehn. Als ich mich wieder aufrichte, hat das Summen so weit
nachgelassen, dass ich meine eigene Stimme höre. »Wie?«
»Wir ermitteln noch, deswegen kommen wir zu Ihnen«, sagt der GröÃere
der beiden.
»Kannten Sie ihn gut?« Sein Begleiter ist untersetzt, als habe ihn
jemand mit einem schweren Hammer gestaucht.
»Wir waren befreundet.«
Ihre Mienen bleiben unbewegt. »Ist Ihnen in letzter Zeit eine
Veränderung an dem Mann aufgefallen? Hat er sich irgendwie komisch verhalten?«
»Er war krank. Das ist alles.«
»Wie krank?« Egal, wer von den beiden spricht, es scheint alles aus
einem Mund zu kommen.
Ich berichte von Bens Brechdurchfall. Sie tauschen Blicke, wie
Schüler, die sich heimlich Zettelchen zuschieben.
»Irgendwelche seltsamen Angewohnheiten?«
»Er war ein Computerfreak«, sage ich. »Die haben alle ihre Macken,
schätze ich.«
»Hatte er besondere ⦠Vorlieben beim Essen?«
»Mochte er beispielsweise Zeug, das kein richtiges Essen war?«
Ich sehe Ben vor mir, wie er sich die heruntergefallene Garnele in
den Mund stopft. Aber Garnelen sind definitiv Essen.
»Nicht dass ich wüsste.«
»Computerteile, Papier oder Katzenstreu?«
Zu meinen groÃen Talenten zählt, dass ich ein echt gutes Pokerface
hinkriege.
»Nein.«
Wir starren uns eine Weile an. Bis die beiden sich verabschieden und
ich zu erkennen gebe, dass mir das sehr recht ist.
Keine Tränen. Das ist absurd, weil ich weiÃ, dass ich weine.
Mein Körper spielt der Reihe nach alles durch, wie es sich gehört: zitternde
Lippen, bebende Wangen, zuckende Schultern. Aber meine Augen sind trocken wie
die Wüste Gobi.
Nichts fühlt sich normal an, nicht einmal ich.
Ich rufe James an, weil ich mich plötzlich vergewissern muss, dass
es ihm gut geht.
»Alles okay«, sagt er. »Bis auf dieses ewige Erbrechen. Ich glaube,
Raoul hat mich angesteckt.« Mein Herz ist wie Ikarus, der sich zur Sonne
hinaufschwingt und im nächsten Moment in die Tiefe stürzt.
»James, tu mir einen Gefallen! Geh zum Arzt! Geht beide zum Arzt.«
»Nun übertreib nicht. Vielleicht haben wir uns auch nur mit
irgendetwas den Magen verdorben. Bei dir alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung«, plappere ich ihm wie ein Papagei nach. Wir sind
Lügner, er und ich.
Wir verabschieden uns inmitten des wachsenden Unheils, aber nur ich
spüre die Last auf meinen Schultern. Sie drückt mich zu Boden, weil ich weiÃ,
dass Ben tot ist.
Ich gehe ins Wohnzimmer, um meine Gedanken zu ordnen und meine
Handtasche zu holen. Das Gefäà steht da. Natürlich. Es ist immer da.
Allgegenwärtig und allwissend.
Der arme Ben. Und Stiffy, der Kater, der nie zurückkam.
Mein Verstand ist ein Mühlstein, der die Brocken zerkleinert und
leichter verdaulich macht. Sie in eine Form verwandelt, die für mich mehr Sinn
ergibt.
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