Wickelkontakt - Roman
erste Mal in meinem Leben eine Weightwatchers-Waage, an der kein Weg vorbeiführt. Sprich, sie steht so nah an der Tür, dass jeder, der in den Raum möchte, gezwungen ist, sich daraufzustellen. Leider darf ich mich nicht komplett ausziehen, und sogar die Schuhe muss ich anbehalten! Frechheit! Entschlossen ziehe ich wenigstens meine Jacke und meine Strickjacke aus und stelle mich mutig auf die Waage.
Das Gewicht wird nur der Mitarbeiterin angezeigt, die es in meinen neuen WW-Pass einträgt. Dann lächelt sie mich an, sagt: » Viel Erfolg!«, ich murmele ein Dankeschön und nehme meinen Pass entgegen. Die Zahl darin gucke ich mir lieber erst zu Hause an, ich will mir ja jetzt nicht den Abend ruinieren. Ich setze mich in die letzte von fünf Stuhlreihen und sehe mich neugierig um.
Vorne stehen zwei lange Tische, auf denen wie auf einem Buffet Tütensuppen, Gummibärchen, Kochbücher und andere WW-Utensilien aufgebaut sind. Überall an der Wand des circa fünfzig Quadratmeter großen, etwas muffigen Raumes hängen riesige Plakate, auf denen sich gesunde Lebensmittel türmen, schlanke Frauen strahlen oder fröhliche Gruppen beim Joggen zu sehen sind.
Die sechs Grundlagen des Konzepts, die sogenannten » Fit-Formeln« schreien die Abnehmwilligen von allen Seiten an. » Esst fünf Mal am Tag Obst und Gemüse! Trinkt viel! Denkt an Calcium, Bewegung und gute Fette!«
Der Raum füllt sich mit Menschen, einige kennen sich und plaudern miteinander, andere setzen sich schweigsam wie ich alleine auf einen Stuhl. Um zwanzig Uhr ist es voll, alle Stühle sind besetzt, und es geht los.
Die lächelnde Gruppenleiterin stellt sich vor ihr Publikum. Ich lächele nicht, sondern erblasse innerlich vor Neid. Hoffentlich nicht auch äußerlich, obwohl sie diese Reaktion bestimmt kennt, und dann schwöre ich mir, diesen Kurs nicht eher zu verlassen, bis ich dünner bin als sie. Und wenn es Jahre dauern sollte! Sie stellt sich vor als Jasmin Küpperfeld und erläutert dann die Grundregeln des Weightwatchers-Prinzips. Ich höre nur mit halbem Ohr hin und bewundere sie einfach noch ein bisschen. Jasmin ist ungefähr dreißig, also in meinem Alter, einen Meter achtzig groß, wovon ihre Beine ungefähr einen Meter sechzig lang sind, hat kurze blonde Wuschelhaare à la Meg Ryan, ist aber hübscher als die Schauspielerin, hat eine sagenhafte Figur, die sie mit einem schicken schwarzen Outfit betont, und einen wunderbaren hellbraunen Teint. Wie kriegt sie den bloß hin?
Während ich also dieses wunderbare Wesen nur bestaunen kann, höre ich wie im Traum, dass sie gerade von ihren beiden Kindern erzählt. Wie jetzt– Kinder? Niemals!! Wer Kinder hat, sieht so aus wie ich! Ich zwinge mich, ihr weiter zuzuhören, und erfahre alles über die Ernährungspyramide und Nordic Walking, sagte » Ja« und » Amen, Schwester«, und fast hätte ich laut Halleluja geschrien und in die Hände geklatscht, als mir einfällt, dass dies keine Gospelkirche, sondern der Versammlungsraum der Weightwatchers ist. Ich beruhige mich wieder und schaue mir die Damen, die mit mir zusammen abnehmen wollen, etwas genauer an. Erstaunlicherweise sitzt neben mir ein bebrilltes Fünfundvierzig-Kilo-Persönchen mit mausbraunen Haaren, einer spitzen Nase und auffälligen Hasenzähnchen. Wie süß, ein kleines Nagetier. Wenn sie jetzt so dünn ist, musste sie ja schon ordentlich abgenommen haben– ich entschließe mich, sie direkt zu fragen. » Wie viel hast du denn schon runter?«, flüstere ich ihr zu.
Unter der dicken Brille wird das Mäuschen knallrot. » Ich?«, fragt es schüchtern und reibt sich die vermutlich schweißnassen Hände an den braun behosten Oberschenkeln.
Wer sonst? Oder meint sie, ich wollte mich selber etwas besser kennenlernen, weil ich ja das erste Mal hier bei dem Treffen bin? Ich nicke nur, ohne meinen Groll gegen dieses dünne Wesen allzu deutlich zu zeigen.
» Ich, ich… Ich hab noch gar nichts abgenommen«, stammelt das Nagetierchen, offensichtlich hoch erschrocken, dass jemand das Wort an es richtet. Am liebsten wäre es wohl in sein Mauseloch gekrochen und nie wieder rausgekommen.
» Wie– nicht abgenommen? Und warum bist du dann hier? Schreibst du eine Reportage oder so was?«, hake ich nach. Andere Gründe kann ich mir für ihre Anwesenheit einfach nicht vorstellen.
Aus den Äuglein in dem purpurroten Gesichtchen quellen sofort kleine Tränen. Meine Güte, das arme Ding muss ja schwerwiegende Probleme haben! Vielleicht sollte sie sich mal
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