Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
geboren, und doch nahm er schon am zweiten Krieg teil. An einem Krieg, den er nicht verstand.
Müde und niedergeschlagen verdrängte er diese Gedanken und zwang sich dazu, in die Gegenwart zurückzukehren, ins Hier und Jetzt, in das Grauen der Feste. Entgegen aller Vernunft wünschte er sich, daß Kämpffers Drohungen in bezug auf die Dorfbewohner zu den angestrebten Resultaten führten und daß keine weiteren Soldaten starben. Aber wenn es nicht klappte, wenn der grauenvolle Tod in der kommenden Nacht noch einmal zuschlug … Ich hoffe, dann erwischt es den Sturmbannführer.
10. Kapitel
Die Feste
Dienstag, 29. April • 01.18 Uhr
Kämpffer lag wach unter der Decke und dachte noch immer an Wörmanns empörendes Verhalten. Wenigstens reagierte Feldwebel Oster so, wie es sich gehörte. Wie die meisten Soldaten der regulären Armee offenbarte er furchtsame Gehorsamkeit, wenn er schwarze Uniformen und Totenkopfabzeichen sah, wohingegen sein kommandierender Offizier völlig unbeeindruckt blieb. Eigentlich kein Wunder, dachte er. Wir haben uns kennengelernt, bevor die SS gegründet wurde.
Oster hatte sich um die Einquartierung der Einsatzgruppe gekümmert und für die als Geiseln genommenen Dorfbewohner einen Flur im hinteren Bereich des Kastells vorgeschlagen. Es handelte sich um einen Tunnel, der durch den Berghang und zu vier großen Räumen führte. Der Arrestkomplex konnte nur durch einen weiteren Flur erreicht werden, der bis zum Hof reichte. Feldwebel Oster ließ in den beiden Passagen Kabel verlegen und Glühbirnen aufhängen: Sie mußten so hell sein, daß die dort stationierten SS-Wächter jeden sahen, der sich ihnen näherte.
Kämpffer wählte als Unterkunft ein besonders großes Zimmer, das zur hinteren Sektion der Feste gehörte. Er entschied sich gegen den Turm: Er hätte sich dort in der ersten oder zweiten Etage niederlassen müssen, unter Wörmann. Nein, der rückwärtige Abschnitt der alten Festungsanlage war weitaus besser. Oster brachte ihm ein Bettgestell – wahrscheinlich mußte einer der Soldaten nun auf dem Boden schlafen –, und das Fenster gestattete einen ungehinderten Blick auf den Hof. Hinzu kam eine Tür aus besonders massivem Eichenholz, die mit einem dicken, schweren Riegel gesichert werden konnte.
Der SS-Offizier drehte sich auf die Seite und betrachtete im Lampenschein die vielen Kreuze an der Wand. Seltsam. Er hatte den Feldwebel danach fragen wollen, entschied sich jedoch dagegen: Angehörige der Schutzstaffel standen in dem Ruf, alles zu wissen. Vielleicht sollte ich Wörmann darauf ansprechen – wenn ich es über mich bringen kann, noch einmal ein Wort an ihn zu richten.
Wörmann … Immer wieder kehrten seine Gedanken zu ihm zurück. Solange der Wehrmacht-Major in der Nähe war, sah sich Kämpffer außerstande, seine Rolle als SS-Mann so zu spielen, wie er es gewohnt war. Wörmanns Blick durchdrang die schwarze Uniform, die Schale aus Härte und Gnadenlosigkeit, und reichte bis zu einem entsetzten, achtzehnjährigen Kämpffer zurück. Jener Tag bei Verdun wurde zu einem Wendepunkt im Leben der beiden jungen Männer …
Die Briten beginnen mit einem Überraschungsangriff, durchbrechen die deutschen Linien. Das heftige Geschütz- und Gewehrfeuer des Feindes zwingt Kämpffer, Wörmann und die ganze Truppe dazu, in den Schützengräben zu blei ben. Überall sterben Soldaten. Der Mann am Maschinengewehr wird getroffen und ist auf der Stelle tot … Und die Briten stürmen vor … Rückzug und Neugruppierung, die einzige Möglichkeit, einer vernichtenden Niederlage zu entgehen … Aber der Kompaniechef gibt keinen solchen Befehl; er ist wahrscheinlich gefallen … Gefreiter Kämpffer sieht sich um, stellt erschrocken fest, daß alle tot sind – alle bis auf einen jungen, unerfahrenen Rekruten, erst sechzehn Jahre alt, kaum mehr als ein Knabe … Er fordert ihn mit einem Wink auf, sich mit ihm abzusetzen, zu fliehen … Aber Wörmann schüttelt den Kopf und kriecht zum Maschinengewehr. Zu erst feuert er eher unsicher und zögernd, doch dann immer entschlossener … Und Kämpffer läuft fort, davon überzeugt, daß der Knabe nicht die geringste Chance hat und irgendwann von einer Kugel getroffen wird.
Aber Wörmann überlebte. Er schaffte es sogar, den Feind lange genug aufzuhalten, um der Truppe die Möglichkeit zu geben, sich neu zu formieren. Er wurde befördert und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Als der Krieg endete, war er Fahnenjunker-Offiziersanwärter
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