Wie Blueten Am Fluss
finstere Miene
deutlich erkennen konnte. Sie wagte nicht zu fragen, was der Grund für seinen Verdruß war. Es
verstieß gegen jede Etikette, wenn eine Dienerin sich nach den persönlichen Gedanken, den inneren
Kämpfen und Gefühlen ihres Herrn erkundigt hätte. Sie konnte jedoch nicht umhin, sich zu fragen,
was die Corbins wohl getan hatten, das ihn in solch trostlose Gemütsverfassung stürzen konnte. Die
bösen Worte, die gefallen waren, waren ihr natürlich nicht entgangen. Tatsächlich hätte sie mit ihren
Gedanken schon sehr weit fort sein müssen, um die Drohungen zu überhören, die Hugh Corbin mit
erhobener Krücke ausgestoßen hatte. Auch der Zorn, mit dem Roxanne sich in die Hütte
zurückgeflüchtet hatte, war Shemaine nicht entgangen, aber der Wind hatte ihre Worte weggerissen,
und die dunkle Nacht hatte sie verschlungen. Aber zu den ersten Mißstimmigkeiten war es gekommen,
gleich nachdem Hugh sie, Shemaine, erblickt hatte. Deshalb konnte sie sich des Gefühls nicht
erwehren, daß etwas, das er über sie gesagt hatte, der Anlaß zu dem nachfolgenden Streit gewesen
war.
Selbst in dem schwachen Licht des Mondscheins spürte Gage den nachdenklichen Blick seiner
Dienerin auf sich ruhen, aber sie legten viele Meilen zurück, bevor er glaubte, es wagen zu können, in ihre Richtung zu sehen. Als er es schließlich tat, blickte er un-220
Versehens in glänzende, vom Mond beschienene Augen. »Macht dir irgend etwas Sorgen, Shemaine?«
»Ich spüre nur Ihren Zorn, Mr. Thornton«, murmelte sie furchtsam, »und ich frage mich, ob ich etwas
tun kann, um ihn zu lindern. Mir ist bewußt, daß ich auf irgendeine Weise dafür verantwortlich bin.«
»Es ist nicht deine Schuld«, erklärte Gage mit Nachdruck.
Nein, dachte er versonnen, die Schwierigkeiten hatten kurz nach seiner Ankunft in Newportes Newes
begonnen. Nach ihrer ersten Begegnung hatte Roxanne nicht lange gebraucht, um den zwanghaften
Wunsch zu entwickeln, seine Frau zu werden. Sie hatte ihre verschlagenen Ränke gewoben, um ihn
mit einer erzwungenen Hochzeit in die Falle zu locken, hatte Unschuld geheuchelt, während sie sich
ihm aufreizend näherte. Zweifellos hatte sie gehofft, seine ausgehungerten Junggesellensinne zu
erregen. Da ihm aber seine Verletzlichkeit als Mann mit ungestillten fleischlichen Nöten durchaus
bewußt gewesen war, hatte er mit äußerster Vorsicht sämtliche Annäherungsversuche ihrerseits
ignoriert und sogar in Kauf genommen, daß man ihn möglicherweise für begriffsstutzig hielt.
Schließlich war er nicht aus England und vor der schönen Christine geflohen, nur um mit einer Frau
anzubändeln, die er am Morgen danach nicht einmal mehr hätte ansehen mögen. Wann immer
Roxanne sich ihm näherte, hatte er sich umsichtig andernorts Beschäftigung gesucht.
Nach seiner Hochzeit mit Victoria, einige Jahre später, hatte Roxanne sich im Haus ihres Vaters
verbarrikadiert und getrauert, als sei für sie das Ende der Welt gekommen. Zu guter Letzt war sie dann wieder aus ihrer düsteren Höhle hervorgekrochen. Dennoch hatte sie ihn eine ganze Weile mit all dem Haß behandelt, den eine geschändete Jungfer einem gewissenlosen Schurken gegenüber empfinden
mochte, wenn dieser sie, nachdem er ihr die Unschuld geraubt hatte, einfach grausam beiseite stieß.
Ihre Verbitterung angesichts seiner Zurückweisung war mit der Zeit abgeklungen, hatte erst
sehnsüchtigen Blicken und zittrigem Lächeln Platz gemacht und sich schließlich zu subtilen
Annäherungsversuchen gewandelt, bis er ihren Besuchen nur noch mit Widerwillen, ja sogar mit Ab—
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scheu entgegengesehen hatte. Victoria hatte Roxannes Hinterlist nicht zu durchschauen vermocht, und
er hatte sie nicht darüber aufklären mögen. Seine Frau hatte lediglich Mitleid mit der unverheirateten Roxanne gehabt und war der Tochter des Schmieds die beste Freundin gewesen, die diese je gehabt hatte.
Nach dem Tod seiner Frau hatte Roxanne abermals große Entschlossenheit gezeigt, ihn für sich zu
erringen. Da sie nach Victorias tödlichem Sturz augenblicklich zur Hand war, hatte sie offensichtlich
geglaubt, dies als eine Art Druckmittel benutzen zu können, mit dem sie ihn eines Tages vor den Altar
zwingen würde. Wenn auch unausgesprochen, war die Drohung doch stets gegenwärtig gewesen. Sie
würde die Wahrheit sagen oder auch lügen, aber diesmal war sie fest entschlossen, ihn zu bekommen...
oder er würde ebenfalls nichts bekommen.
Im vollen Bewußtsein
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