Wie Blueten Am Fluss
war sein Tonfall sanft und tröstend und wärmte Shemaines
Herz vielleicht noch mehr als das des Jungen.
Der Abend legte sich einige Stunden später übers Land und mit ihm ein immer dichterer Nebel, der die
Hütte zu einer Insel in einem weißen Meer machte. Draußen konnte man irgendwo eine Eule rufen
hören. Mit der Dunkelheit war auch eine tiefe Stille in die Hütte eingekehrt, die nur durchbrochen
wurde vom Knistern und Prasseln des Feuers und von dem Kratzen einer Feder auf Pergament, als
Gage sich hinten im Korridor Notizen in einem Rechnungsbuch machte. Völlig in seine Arbeit
vertieft, schien er die Frau, die er vor einigen Stunden gekauft hatte, vergessen zu haben. Wann immer Shemaine von ihrer Näharbeit in der Küche aufblickte, konnte sie ihn durch die offene Tür sehen. Sie saß rechts vom Feuer in einem Schaukelstuhl und hatte die Hälfte des Flurs im Blick. Nachdem sie mit
den Thorntons die von Hannah Fields zubereiteten Speisen zu Abend gegessen hatte, hatte sie alles für
das Frühstück vorbereitet und die Küche aufgeräumt. Später hatte Gage Andrew in seinem kleinen
Zimmer gleich neben seinem eigenen Schlafzimmer zu Bett gebracht und sich dann an seinem
Zeichentisch an die Arbeit begeben. Shemaine säumte in der Zwischenzeit das blaue Gewand und das
zweite Unterkleid, das sie für sich ausgesucht hatte.
Es hatte gewiß nicht in ihrer Absicht gelegen, ihren Herrn mit ihrem Verlobten zu vergleichen, aber
während ihre Finger die Nadel durch den Stoff zogen, machten Shemaines Gedanken sich selbständig.
In vieler Hinsicht ähnelten die beiden Männer sich. Beide hatten sie Haar so schwarz wie die
Schwingen eines Raben. Gage Thornton trug das Haar kurzgeschnitten, Maurice dagegen hatte seine
Mähne zu einem ordentlichen Zopf geflochten. Beide verzichteten sowohl auf Puder als auch auf
Perücken. Wenn es einen Größenunterschied zwischen den beiden Männern gab, dann war
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dieser zu geringfügig, um ihn zu bemerken. Beide waren groß, breitschultrig, schlank, aber muskulös,
und sahen in jeder Kleidung vorzüglich aus, ob es sich dabei um die Wildlederhosen und die groben
Hemden handelte, die Gage bevorzugte, oder um Maurice' elegantere Ausstattung. Obwohl ihr
Verlobter im allgemeinen schwarze Seide allen anderen Farben und Stoffen vorzog, ging es ihr durch
den Sinn, daß der Marquis, so stattlich er auch war, in seiner höfischen Pracht nicht beeindruckender
ausgesehen hatte als Gage Thornton in seiner strapazierfähigen Kleidung. Die Hüften ihres Herrn
waren schmal genug, um den Neid des eitelsten Dandys zu erregen. Und die engen Lederhosen
zeichneten jeden Muskel nach, ein unverkennbarer Beweis für die athletische Kraft des Mannes.
Maurice du Mercer war gewiß kein Schwächling gewesen, registrierte Shemaine im Geiste, damit ihr
Vergleich nicht parteiisch ausfiel. Er war in der Tat ein beachtlicher Fechter und hervorragender
Reiter. Des weiteren war er bewandert in sämtlichen höfischen Tänzen und bewegte sich auf dem
Parkett mit derselben Anmut, mit der er ein Pferd ritt. Andererseits ließ sich der Unterschied zwischen den beiden Männern einfach durch den Vergleich ihrer Hände zusammenfassen. Gages Finger waren schlank und hart. Im Zugriff eines solch stählernen Schraubstocks hätten die blassen, schönen, von
Schwielen unversehrten Hände des Marquis du Mercer üble Knochenbrüche erleiden können.
Irgendwann einmal, vielleicht vor ein oder zwei Jahrhunderten, war Shemaine davon überzeugt
gewesen, daß kein Mann es mit der äußeren Vollkommenheit ihres Verlobten aufnehmen konnte.
Gewiß hätte niemand die aristokratische Noblesse von Maurice' Zügen geleugnet oder die Schönheit
seiner dunkelbewimperten, fast schwarzen Augen. Als ihre Mutter, die bis dahin großes Vertrauen in
die Vernunft ihrer Tochter gesetzt hatte, von seinem Heiratsantrag erfuhr, hatte sie der Sorge
Ausdruck verliehen, daß Maurice und Shemaine möglicherweise mehr von einer starken körperlichen
Anziehung zueinander als von tiefer und unverbrüchlicher Zuneigung beherrscht wurden.
Eine Weile später hatte Camille abermals die Vermutung ge—
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äußert, daß Shemaine sich von der Grandezza ihres Verlobten und seiner Stellung im Leben hatte
hinreißen lassen. Shemus O'Hearn mochte zwar von teuflischem Temperament sein, aber er war in
aller Regel klug genug, den Rat seiner Frau zu beherzigen. Gemeinsam hatten sie beschlossen, ihre
Zustimmung zu verweigern, und
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