Wie Blueten Am Fluss
naheliegende Frage: »Glaubst du wirklich,
daß du es fertigbrächtest, einen Menschen zu töten, Shemaine?«
»Wenn Mr. Potts mich findet, werde ich das müssen«, erwiderte sie fest. »Wenn ich mich nicht
verteidigen kann, wird er mich töten.«
»Wenn einer der Männer oder ich ein Boot an Land kommen sehen, geht für gewöhnlich einer von uns
hinunter, um die Besatzung zu begrüßen. Ich muß jedoch zugeben, daß wir bisweilen zu viel zu tun
haben, um in der Werkstatt auch nur aus dem Fenster zu gucken. Falls du Potts entdeckst, brauchst du
nur die Glocke an der Treppe zu läuten oder dir die Seele aus dem Leib zu schreien. Einer von uns
wird dich gewiß hören und sofort zu Hilfe eilen.«
»Ich glaube nicht, daß Sie verstanden haben, womit Sie oder Ihre Männer es im Notfall zu tun hätten,
Mr. Thornton«, antwortete Shemaine bedachtsam. »Der Mann ist eine Bestie. Ein riesiges Vieh von
einem Kerl! Sie müßten schon zu zweit sein, um eine Chance gegen dieses Ungeheuer zu haben.«
»Für gewöhnlich kann ich auf mich und alles, was mir gehört, recht gut achtgeben«, versicherte Gage
ihr, aber er wußte natürlich, daß er genausowenig wie irgend jemand sonst in der Lage war,
Schwierigkeiten genau vorherzusehen. »Aber für den Fall des Falles zeige ich dir, wie man eine
Muskete abfeuert.«
Shemaine nickte befriedigt. Mit der Waffe umgehen zu können würde ihr Sicherheit geben. Als sie
sich vorbeugte, sah sie, daß er ihre Beine mit einem Handtuch abrieb, um die überschüssige Salbe zu
entfernen. Dann hockte er sich auf die Fersen, erlaubte ihr, ihre Röcke herunterzulassen, und wischte
sich die Hände an dem Handtuch ab; er schien sich auf dem Boden durchaus wohlzufühlen.
Shemaine stellte zu ihrem Erstaunen fest, daß ihre aufgeschürfte Haut sich bereits ein wenig zu
erholen schien. »Ich glaube tatsächlich, Mr. Thornton, daß Sie neben all Ihren anderen Talenten auch
ein begabter Arzt sind. Meine Gelenke fühlen sich bereits besser an. Ich bin Ihnen zu großem Dank
verpflichtet.«
Gage neigte leicht den Kopf, um sich zu bedanken. Aber eigentlich faszinierte ihn weniger das, was
sie gesagt hatte, als ihre Art, es auszusprechen, gewisse Wörter zu betonen, vor allem seinen Namen.
Aus ihrem Mund klangen die Silben so zauberhaft und hübsch wie das Klimpern silbriger Glöckchen
an einem windigen Morgen. Obwohl er sich durchaus bewußt war, daß er darauf bestanden hatte, von
ihr beim Vornamen genannt zu werden, mußte er doch zugeben, daß die formelle Anrede aus ihrem
Mund seine Sinne nicht wenig aufwühlte. Ihre Aussprache, mochte sie so gewählt sein, wie sie wollte,
war offensichtlich stark von ihrem irischen Vater Shemus O'Hearn geprägt.
»Deine Gelenke müßten eigentlich schon in ein paar Tagen besser aussehen«, prophezeite er. »In
einem Monat wirst du die Striemen vergessen haben, und bis dahin kann ich mir vielleicht auch ein
paar Schuhe für dich leisten.«
»Sie brauchen sich keine Gedanken über Schuhe für mich zu machen, Mr. Thornton«, erwiderte
Shemaine leise. »Ich bin schon dankbar für die, die Sie mir zu tragen erlaubt haben. Wie Sie richtig
vermutet haben, sind sie etwas zu groß für mich, aber es wird mir nicht schwerfallen, mich an sie zu
gewöhnen. Ich weiß sehr wohl, wie es ist, keine Schuhe zu haben, und ich bin froh, überhaupt welche
zu besitzen, ganz gleich, wie sie aussehen oder wie gut sie passen. Es ist bei weitem angenehmer,
Schuhwerk an den Füßen zu haben, als jeden Kiesel oder Splitter zu spüren, auf den ich trete.«
»Es war nicht viel Scharfsinn vonnöten, um festzustellen, daß Victorias Schuhe dir zu groß sein
würden«, bemerkte Gage. »Trotz ihrer Zierlichkeit war meine Frau annähernd einen halben Kopf
größer als du.«
»Ich denke, Andrew wird auch einmal sehr groß werden«, meinte Shemaine mit einem nachdenklichen
Blick auf die Hände seines Vaters. Gages Finger waren lang, schlank, an den Spitzen relativ
quadratisch und genauso schön anzusehen wie der Mann selbst. »Wie sollte der Junge auch nicht groß
werden, da Sie selbst so hochgewachsen sind? Ich bin sicher, er wird Ihnen, wenn er älter ist, wie aus dem Gesicht geschnitten sein.«
»Das hat Victoria kurz nach Andrews Geburt auch gesagt«, erinnerte Gage sich. »Und vielleicht wird
es sich auch bewahrheiten, da sie selbst ein heller Typ war. Ihr Haar hatte die Farbe von
Gerstengrannen und auch deren Glanz. Ich habe oft beobachtet, wie der Wind in
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