Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
gehalten war. Die eigentliche Attraktion des Raums war der Ausblick: Durch die Glaswände sah man leuchtend grünen Rasen, den stahlblauen Sund und in der Ferne die Olympic Mountains.
»Möchtest du ein Glas Wein?«, fragte Jude.
Ihre Mutter setzte ihre Tasche so vorsichtig ab, als enthielte sie etwas Explosives. »Selbstverständlich. Wenn möglich Chardonnay.«
Jude war froh über den Vorwand, den Raum zu verlassen. Sie ging durch den Essbereich mit dem langen, stark gemaserten Ahorntisch und den zehn Stühlen zur offenen Küche dahinter. Sehen konnte sie ihre Mutter nur, als sie die holzverkleidete Tür ihres Sub-Zero-Kühlschranks öffnete.
Als sie zum Wohnbereich zurückkehrte, stand ihre Mutter am Ende des Sofas und schaute sich das riesige Gemälde über dem Kamin an. Es war ein wunderschönes abstraktes Bild: Linien, mal wie hingeworfen, mal verschnörkelt, in Bernstein, Rot und Schwarz, die irgendwie einen Eindruck von Leichtigkeit und Glück vermittelten. Ihre Mutter hatte es Jahrzehnte zuvor gemalt, und es fiel Jude immer noch schwer, den hinreißenden Optimismus des Bildes mit der Frau davor in Verbindung zu bringen.
»Du solltest das Ding ersetzen. In der Galerie gibt es momentan ein paar sehr nette Bilder«, bemerkte ihre Mutter.
»Mir gefällt’s«, erwiderte Jude, und das entsprach der Wahrheit. Es war das Lieblingsbild ihres Vaters gewesen – sie erinnerte sich noch, wie sie Hand in Hand – ihre winzige in seiner riesigen – zugesehen hatten, als ihre Mutter es malte. Guck dir an, wie sie das macht. Die reinste Magie , hatte er gesagt, und eine Zeitlang hatte Jude geglaubt, dass es in ihrem Haus so etwas wie Magie gab. »Ich weiß noch, wie ich dir beim Malen zugesehen habe.«
»Das ist doch eine Ewigkeit her«, entgegnete ihre Mutter und wandte dem Bild den Rücken zu. »Warum machst du dich nicht frisch? Ich warte so lange.«
Jude gab ihrer Mutter das Glas Wein und verließ den Raum. Sie duschte rasch, zog sich bequeme Jeans und einen schwarzen Pulli mit V-Ausschnitt an und kehrte in den riesigen Wohnbereich zurück, wo ihre Mutter kerzengerade auf dem Sofa saß und wie ein Vögelchen an ihrem Wein nippte.
Jude nahm ihr gegenüber Platz. Zwischen ihnen stand ein großer Couchtisch aus Stein. »Das Essen ist schon fertig, falls du Hunger hast«, sagte Jude. »Ich hab uns Waldorfsalat gemacht.«
Dann verfielen sie wie üblich in Schweigen. Unwillkürlich fragte sich Jude, warum sie diese Farce aufrechterhielten. Einmal im Monat trafen sie sich zum Essen – mal bei Jude, mal bei der Mutter, als machte das einen Unterschied. Bei einer gesunden Mahlzeit mit teurem Wein taten sie so, als hätten sie sich etwas zu sagen. Als hätten sie eine Beziehung.
»Hast du den Artikel in der Seattle Times gelesen? Den über die Galerie?«, wollte ihre Mutter wissen.
»Natürlich, du hast ihn mir doch geschickt. Darin steht, wie wichtig es für dich ist, Mutter zu sein.«
»Das stimmt auch.«
»Aber Nannys hattest du schon.«
Ihre Mutter seufzte. »Ach, Judith Anne. Fang nicht wieder mit der alten Leier an.«
»Tut mir leid, du hast recht«, erwiderte Jude, und das nicht nur, um das Thema zu beenden. Es stimmte: Jude war jetzt sechsundvierzig, alt genug, um ihrer Mutter mittlerweile verziehen zu haben. Andererseits hatte ihre Mutter sie nie darum gebeten, so als sei es nicht notwendig. Obwohl sie ihre Mutterrolle abgelegt hatte wie ein zu eng gewordenes Kleid. Ohne Vorankündigung und mitten in der Nacht. Jude war damals sieben Jahre alt gewesen und überwältigt von Trauer. Dennoch hatte nach der Beerdigung ihres Vaters niemand daran gedacht, sich um sie zu kümmern, am wenigsten ihre Mutter, die am nächsten Tag schon wieder an ihre Arbeit gegangen war. In den folgenden Jahren hatte sie ununterbrochen gearbeitet. Sie hatte die Malerei aufgegeben und war eine der erfolgreichsten Galeristinnen von Seattle geworden. Sie kümmerte sich um junge Künstler, während sie ihre Tochter einem Kindermädchen nach dem anderen überließ. Sie hatten keinerlei Beziehung zueinander, bis Caroline fünf Jahre zuvor anrief und sie zum Lunch einlud. Seitdem führten sie einmal im Monat ihre Scharade auf. Jude wusste nicht mal, warum.
»Wie geht es den Kindern?«, erkundigte sich die Mutter.
»Sehr gut«, antwortete Jude. »Zach hat ausgezeichnete Noten, und Mia ist eine begabte Schauspielerin. Daddy wäre stolz auf sie gewesen.«
Ihre Mutter seufzte. Das überraschte Jude nicht. Das Thema Dad war tabu. Er war
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