Wie der Vater so der Tod
mir Horror zuzumuten.
»Wer ist das?«, fragt Zach und deutet aufs Handy.
»Niemand, eigentlich.« Es fühlt sich nach einer Lüge an, denn ich denke bereits auf eine Weise an Alex, wie ich schon seit einer ganzen Weile an keinen Jungen mehr gedacht habe. Aber ab morgen werde ich nichts Besonderes mehr für Alex sein, nur noch »das Mädchen, das mit meinem Buch abgehauen ist«. Wenn er morgen anruft, singt Keith Urban am Grund irgendeines Flusses, vielleicht des Ausable River, denn dorthin muss ich mein Handy werfen, damit Dad mich nicht findet.
Als ich aufsehe, macht Zach mit seinem Handy ein Foto von mir. Er schießt dauernd irgendwelche Fotos.
»Merk dir meine Worte: Eines Tages wird ein Bild von dir im Time -Magazin erscheinen – neben einem preisgekrönten Artikel, den du geschrieben hast.«
»Wohl eher im Country Time «, sagt er.
Zach verabscheut das Magazin. Es ist eine regionale Zeitschrift über das Leben auf dem Land.
»Na ja, wenigstens bringen sie tolle Bilder«, erwidere ich.
»Ich habe auch ein Bild von Alex«, sagt Zach unschuldig. »Ich hab’s aufgenommen, als ihr euch angehimmelt habt. Soll ich es dir schicken?«
Ich hebe die Schultern, als würde es keine Rolle spielen. »Ja, warum nicht?«
Ich hole die Aufnahme auf das Display meines Handys und versuche, nicht die Augen aufzureißen. Zach hat das Foto wie immer genau im richtigen Moment gemacht. Es zeigt sowohl das Lächeln in Alex’ Gesicht als auch das Lachen in seinen Augen. Vielleicht werfe ich mein Handy doch nicht in den Ausable River.
»Danke«, sage ich und stecke das Telefon weg.
Meine Mutter ist noch nicht gekommen, als die Schule endet. Zach und ich kehren zurück, um den Bus zu nehmen.
»Vielleicht sollten wir zur Polizei gehen«, schlägt Zach vor.
»Bist du verrückt geworden? Sollen wir etwa mit Jack reden?« Mich überläuft es kalt. »Er ist der beste Freund meines Vaters.«
Ich winke Zach von meinem Platz im Bus zu und setze den Ohrhörer auf. Dann öffne ich meinen Rucksack und will das Buch von Stephen King hervorholen.
Stattdessen finde ich den zerknüllten Zettel aus dem Geschichtsunterricht. Ich brauche nicht nachzusehen, um mich daran zu erinnern, was ich geschrieben habe.
Hör nicht auf dein Herz!
Du kannst Dad nicht trauen.
Sag niemandem was!
Ich versuche, nicht an die vierte Zeile zu denken. An die Zeile, die ich nicht geschrieben habe und an die ich nicht glauben will.
Mom ist tot.
5
Mittwoch
Der Bus setzt mich um halb vier ab. Das verschafft mir fast zwei Stunden, bis Dad nach Hause kommt. Ich schließe die vordere Tür auf.
»Hallo? Mom?«
Keine Antwort.
Ich hole mir ein paar Ritz Bits aus der Speisekammer und eine Karotte aus dem Kühlschrank. Dann gehe ich zu Chester, dem Pferd unseres Nachbarn. Er wartet auf mich.
»Tut mir leid wegen gestern, mein Junge.« Ich reibe die rautenförmige weiße Stelle auf seiner Stirn und biete ihm auf der flachen Hand die Karotte an. »Eigentlich sollte ich auch heute nicht hier sein.« Ich höre gern, wie Chester die Karotte zerbeißt. »Ich würde gern ein bisschen mit dir plaudern, aber ich bin auf der Suche nach jemandem.« Chester wirft den Kopf nach oben, eine Art umgekehrtes Nicken, und läuft auf der Weide davon.
Er scheint zu lahmen. Ich kriege einen Schreck.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Chester?«
Er bleibt stehen und bewegt den Schweif.
Wahrscheinlich ist es nichts weiter. Bis morgen hat er sich bestimmt erholt.
Im Haus leere ich den Geschirrspüler und wasche alles ab. Ich trockne sogar die Teller und stelle sie weg, damit alles erledigt ist, wenn Dad nach Hause kommt. Anschließend nehme ich mir ein sauberes Glas und drücke es an den Hebel der Eismaschine des Kühlschranks. Eis rattert ins Glas. Ich fülle es aus dem Wasserhahn – der Wasserknopf des Kühlschranks ist zu langsam, und der Geschmack von ungefiltertem Brunnenwasser macht mir nichts aus. Was ich nicht ausstehen kann, ist das Stadtwasser. Der Chlorgeruch erinnert mich viel zu sehr ans Schwimmbecken in der Schule. Ich drehe die Stereoanlage voll auf, weil es im Haus so still ist, und gehe zum Schlafzimmer meiner Eltern.
Dort stelle ich das Glas auf das Deckchen, das auf Moms Nachtschränkchen liegt. Alles ist aufgeräumt, wie es mein Vater will. Der Schirm von Moms Nachttischlampe passt allerdings nicht ganz ins Bild, denn er hängt schief. Hat Dad meine Mutter gegen die Lampe gestoßen? Hat er sie damit geschlagen? Ich betätige den Schalter, aber das Licht geht
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