Wie deutsch ist das denn?!
Schilderung– wie neu geboren zurück. Mehr denn je empfindet er sich nun als Europäer und » Weltbürger « , ferner denn je liegt ihm alles nationalistische Denken und Gehabe. Im Gegenteil: Seine deutschen Landsleute betrachtet er als geistig und kulturell eher rückständig. » Italien « , schreibt der Literaturwissenschaftler Gerhard Schulz, » hatte ihm das Bild von einer grundsätzlich anderen, großzügigeren, offeneren Lebensweise und Lebenseinstellung als der in den deutschen Kleinstaaten vorgeführt. « [13] Was sich 1790 in Goethes schon fast vernichtendem Urteil niederschlägt: » Die Deutschen sind im Durchschnitt rechtliche, biedere Menschen, aber von Originalität, Erfindung, Charakter, Einheit, und Ausführung eines Kunstwerks haben sie nicht den mindesten Begriff. Das heißt mit einem Worte, sie haben keinen Geschmack. « [14]
Später machen die Französische Revolution und ihr Gedankengut tiefen Eindruck auf ihn, und selbst die 1806 beginnende napoleonische Besatzung kann ihn nicht zu vaterländischen Gefühlen bewegen. Auch hier steht er geistig über den Grenzen und Nationalismen. Zwar nimmt er seinen Landesherrn, den von ihm verehrten Herzog von Weimar, vehement gegen französische Unterstellungen eines Komplotts in Schutz, aber das hindert ihn nicht, gleichzeitig auch Napoleon glühend zu bewundern – also ausgerechnet den Erzfeind aller » aufrechten Deutschen « . Und diese Zuneigung beruht durchaus auf Gegenseitigkeit: Der französische Kaiser gehört zu Goethes größten Bewunderern; allein Die Leiden des jungen Werthers soll er sieben Mal gelesen haben. In Erfurt kommt es schließlich zu einem Treffen der beiden, bei dem sie ausgiebig über Literatur, Gott und die Welt parlieren. Gipfelpunkt dieser bemerkenswerten Männerfreundschaft: Im Oktober 1808 bekommt Goethe den Orden der Ehrenlegion verliehen, die höchste Auszeichnung Frankreichs. Mit großem Stolz trägt er nun den Titel eines » Chevalier de la Légion d’Honneur « .
Sein späteres Urteil über Napoleon, überliefert von seinem Freund Johann Peter Eckermann, fällt denn auch geradezu schwärmerisch aus: » Ein Kerl! Immer erleuchtet, immer klar und entschieden, und zu jeder Stunde mit der hinreichenden Energie begabt, um das, was er als vorteilhaft und notwendig erkannt hatte, sogleich ins Werk zu setzen. «
Dass sich Goethe damit unter seinen Landsleuten nicht gerade Freunde schafft, liegt auf der Hand. Während sie ihm Unchristlichkeit und mangelnden Patriotismus vorwerfen, attestiert er ihnen Spießigkeit, Borniertheit und einen unterentwickelten Kunstsinn. Wie tief der Stachel sitzt, belegt eine Reihe von Schmähungen, in denen er ziemlich hemmungslos über die Deutschen vom Leder zieht. Aus einem Dialog mit dem Historiker Heinrich Luden: » Ich habe oft einen bittern Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im Einzelnen und so miserabel im Ganzen ist. « Und im Gespräch mit dem Pädagogen und Schriftsteller Johannes Falk (der sich als Urheber des Weihnachtslieds » O du fröhliche « ebenfalls in der deutschen Kulturgeschichte verewigt hat) bricht es einmal aus Goethe heraus: » Wenn ich es nur je dahin noch bringen könnte, dass ich ein Werk verfasste– aber ich bin zu alt dazu–, dass die Deutschen mich so ein fünfzig oder hundert Jahre hintereinander recht gründlich verwünschten und aller Orten und Enden mir nichts als Übels nachsagten; das sollte mich außer Maßen ergetzen. « Überliefert sind diese Äußerungen wortwörtlich in Falks 1832 postum erschienenen Buch Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt.
Allerdings muss man einschränkend sagen: Wenn Goethe von » den « Deutschen spricht, meint er in erster Linie das sogenannte Bildungsbürgertum– also Bücherleser und Theatergänger, Kritiker und Rezensenten, aber auch viele Künstler und Intellektuelle, die ihm aus seiner Sicht nicht das Wasser reichen konnten. Mit dem » einfachen Volk « dagegen– Handwerkern, Dienstboten, Knechten und Mägden– kommt er problemlos zurecht.
Ihren Höhepunkt erreicht die Entfremdung zwischen Goethe und dem überwiegenden Rest der deutschen Geisteselite– zwangsläufig– zur Zeit der Befreiungskriege. Vielen seiner Landsleute gilt der Napoleon-Freund nun geradezu als Vaterlandsverräter. Wilhelm von Humboldt bemerkt noch Jahre später in einem Brief : » Der Geheimrat trägt den Annen-Orden [15] , die Legion ist beiseitegelegt, wie es scheint. Allein die Befreiung
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